Veranstaltung: | Landesausschuss 20. September 2023 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 4 Sonstiges |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | LAG Wissenschaft & LAG Tierschutzpolitik |
Eingereicht: | 07.09.2023, 13:16 |
Pflichtfach „Tierfreie Forschungsmethodenentwicklung“
Beschlusstext
Um die Entwicklung tierfreier Forschungsmethoden/New Approach Methodologies
(NAMs) voranzutreiben, wirken wir im Rahmen grüner Wissenschafts- und
Tierschutzpolitik, in Zusammenarbeit mit den Hochschulen und weiteren relevanten
Stakeholdern darauf hin, das innovative Fach „Tierfreie
Forschungsmethodenentwicklung“ in allen relevanten, grundständigen Studiengängen
der Berliner Hochschulen als Pflichtfach im Curriculum zu verankern. Dazu zählen
alle grundständigen Studiengänge mit dem Fach Versuchstierkunde oder
Tierversuchen in ihren Forschungsbereichen. In für die tierfreie
Methodenentwicklung ebenso wichtigen technischen Studiengängen sollte das Fach
als Wahlpflichtfach etabliert werden. Für das Fach „Tierfreie
Forschungsmethodenentwicklung“ streben wir einen vergleichbaren Umfang zum Fach
Versuchstierkunde an. Mittel für den Aufbau des Fachs sollen in Form einer
Anschubfinanzierung ergänzend zu den laufenden Hochschulverträgen aus dem
Landeshaushalt bereitgestellt werden.
Begründung
Tiermodelle und Tierversuche haben sich in verschiedenen Forschungsbereichen zur gängigen Praxis entwickelt. Über die Frage, ob tierbasierte Modelle am besten dafür geeignet sind, bestimmte Forschungsfragen zu beantworten, wird in der Wissenschaft zunehmend kontrovers gestritten. Probleme bei der Übertragbarkeit von Tierversuchsergebnissen auf den Menschen sowie dadurch erzeugtes Tierleid haben bereits 1959 zur Etablierung des Konzepts 3R (Refine, Reduce, Replace) geführt. Seit 1986 sind die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durch die EU-Richtlinie 86/609/EWG zum Schutz der Versuchstiere dazu verpflichtet, die Entwicklung und Validierung von Alternativmethoden in ihren Ländern zu fördern. 2010 wurde dies in der Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere erneut verankert und spiegelt sich seit 2013 im deutschen Tierschutzgesetz (TierSchG) und der Tierschutz-Versuchstierverordnung (TierSchVersV) wider. Es besteht eine gesetzliche Verpflichtung alternative Ansätze, sogenannten New Approach Methodologies (NAMs, insbesondere tierfreie/ tierversuchsfreie Methoden) z. B. basierend auf in vitro und in silico Modellen, also Zell- und Gewebekulturen sowie computerbasierten Modellen, weiterzuentwickeln und auch einzusetzen. In diesem Sinne wollen Bündnis 90/Die Grünen: „Tierversuche sollen nach einem Ausstiegsplan konsequent reduziert und durch innovative Forschungsmethoden ohne Tiere ersetzt werden.“ (Grundsatzprogramm Bündnis 90/Die Grünen 2020). Berliner Grüne haben es sich im Wahlprogramm und Koalitionsvertrag 2021 zur Aufgabe gemacht, diesen Prozess zu unterstützen und Berlin zur Hauptstadt der Alternativmethoden zu machen. Denn insbesondere beim wichtigsten und auch nach dem 3R-Prinzip besonders wünschenswerten R „Replacement“ (Ersetzen) von Tierversuchen behindern strukturelle Probleme in der Lehre, Forschungspraxis und Forschungsförderung die zielführende Etablierung und Validierung von NAMs. Dazu zählen:
Die fehlende Integration von NAMs in die Lehre,
die fehlende Kenntnis über entsprechende Suchmaschinen, Datenbanken als Anregung für speziell zugeschnittene Modelle, sowie Zell- und Gewebebanken,
die bevorzugte Behandlung von am Standard Tiermodell und Tierversuch orientierten Projekten (u. a. wissenschaftliche Anerkennung, Publikationsbias) und ihre Überrepräsentation in der Lehre,
die anhaltend deutlich geringere finanzielle Förderung von Alternativmethoden im Vergleich zu tierversuchsbasierten Forschungsprojekten,
und bürokratische, kostenintensive und zeitaufwändige Hürden in der regulatorischen Anerkennung/Validierung von NAMs.
Das fehlende Know-How bezüglich tierfreier Methoden in den Fachbereichen und die Benachteiligung in der durch Tierversuche geprägten Forschung erschweren überdies die Entwicklung neuer Verfahren. Obwohl Berlin den Tierschutz als originäre Aufgabe der Hochschulen bereits im Berliner Hochschulgesetz (BerlHG §4 Abs. 3) verankert hat und damit dem 2002 im Grundgesetz verankerten Staatsziel Tierschutz Rechnung trägt, ist die Lehre von NAMs bisher in den grundständigen Studiengängen nicht als eigenständiges Fach verankert. In diesem Sinne wurden die Berliner Hochschulen mit der Novelle des Berliner Hochschulgesetzes von 2021 bereits aufgefordert, in der Lehre und in Prüfungen auf die Verwendung von eigens hierfür getöteten Tieren zu verzichten (BerlHG §21 Abs. 5). NAM-Lehrangebote finden sich bisher, wenn überhaupt, jedoch erst im späteren Verlauf der relevanten Studiengänge oder werden nur für den Doktorand*innen und PostDoc Bereich angeboten.
Um den Lock-In-Effekt der Methode am Tier zu überwinden und die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre im Bereich NAMs zu stärken, sollte die Kenntnis über tierfreie Forschungsmethoden/NAMs und ihre Entwicklung auch als eigenständiges Fach in die grundständige Lehre integriert werden. Ein Pflichtfach für die NAM-Entwicklung und Anwendung im selben Umfang wie das Fach Versuchstierkunde würde hier einen gewinnbringenden Beitrag für die Entwicklung kreativer neuer Ansätze leisten, dazu beitragen Berlin und Deutschland als zeitgemäßen, innovativen und attraktiven Hochschulstandort zu profilieren und den Anschluss an andere Länder, wie die USA, nicht zu verlieren.