Veranstaltung: | Frauen*Vollversammlung 2022 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 5 Leitantrag "Feminismus lernen: Bildung für eine geschlechtergerechte Gesellschaft!" |
Status: | Beschluss (vorläufig) |
Beschluss durch: | Frauen*Konferenz |
Beschlossen am: | 24.09.2022 |
Eingereicht: | 24.09.2022, 17:49 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Feminismus lernen: Bildung für eine geschlechtergerechte Gesellschaft!
Beschlusstext
Geschlechterklischees, Rollenbilder und patriarchale Vorstellungen finden sich
in unserer Gesellschaft überall. Sie prägen uns von klein auf. Wir übernehmen
sie unterbewusst und die sexistischen Denkmuster prägen unser ganzes Leben und
unseren Umgang mit anderen. Wir verstehen Geschlechtergerechtigkeit als
Chancengerechtigkeit für alle Geschlechter. Für uns ist selbstverständlich, dass
es mehr als zwei Geschlechter gibt. Geschlecht ist nicht binär, sondern ein
Spektrum. Wir erkennen nicht-binäre Identitäten bei Kindern und Jugendlichen an
und unterstützen alle, die an dem ihnen zugeordneten Geschlecht zweifeln. Viele
der Weichen, die unser späteres Leben entscheidend beeinflussen werden in
unserem Bildungsweg gestellt – in Kita, Schule und darüber hinaus. Berufswahl,
Verdienst, aber auch die Absicherung im Alter und unsere Selbstverwirklichung
hängt davon ab, welche Entscheidungen wir bewusst und unterbewusst auf unserem
Bildungsweg treffen. Wir wollen, dass alle Kinder die Chancen erhalten, sich
optimal zu entwickeln und zwar so, wie es zu ihnen passt und für sie am besten
ist – fernab von Geschlechterstereotypen, Sexismus und anderen
Diskriminierungsformen. Jedes Kind hat das Recht sich frei zu entfalten.
Vorstellungen, wie Jungen oder Mädchen sich zu verhalten haben, was sie
interessieren soll und wo sie geschlechtsspezifische Stärken haben, haben dabei
keinen Platz. Doch leider sind freie Entfaltungsmöglichkeiten jenseits von
Geschlechterklischees und eine feministische Gesellschaft keine
Selbstverständlichkeit. Unser Bildungssystem reproduziert gesellschaftliche
Verhältnisse und konfrontiert Kinder von Beginn an mit sexistischen Vorurteilen.
Dabei ist Bildung einer der entscheidenden Hebel, den wir brauchen, um eine
faire und geschlechtergerechte Gesellschaft zu erreichen. Deshalb ist Feminismus
ein unverzichtbarer Bestandteil unserer grünen Bildungspolitik.
Wir Grüne Frauen fordern deshalb:
- Kompetenzvermittlung zu geschlechtergerechter und
diskriminierungssensibler Bildung stärker in den Aus- und Fortbildungen
von Erzieher*innen und Lehrkräften verankern
- Leitbild aus dem Berliner Schulgesetz “Gleichstellung der Geschlechter”
konsequent umsetzen
- eine offene Berufswahl und Lebenswegplanung bei Kindern aller Geschlechter
jenseits von Geschlechterstereotypen ermöglichen
- MINT-Förderung bei Mädchen früher ansetzen und verstetigen
- Jungenarbeit und vielfältige Bilder von Männlichkeit fördern
Erzieher*innen und Lehrkräfte sensibilisieren – Vorbilder schaffen
Erzieher*innen und Lehrkräfte haben eine bedeutende Vorbildfunktion für Kinder
und Jugendliche. Wenn Erzieher*innen und Lehrkräfte Geschlechterstereotype
reproduzieren, verankern sie diese in den Köpfen der Kinder. So setzen sich
Rollenklischees fest: Die Jungs gehen draußen toben, Mädchen sollten lieber
basteln. Jungs seien gut in Mathe, Mädchen hätten die ordentliche Handschrift.
Diese Rollenklischees können die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern
einschränken. Wir wollen, dass Kinder ermutigt werden, ihre Wege auch abseits
der sozialen, heteronormativen Norm zu gehen. Gleichzeitig können Erzieher*innen
und Lehrkräfte auch positive Vorbilder sein und Kinder aller Geschlechter darin
unterstützen, ihre Interessen und Fähigkeiten ohne Rollenzwang zu entdecken.
Diesen Aufgaben können Erzieher*innen und Lehrer*innen aber nur gerecht werden,
wenn in der Ausbildung und in Fortbildungen entsprechende Kompetenzen gezielt
vermittelt werden. Das "Berliner Bildungsprogramm für Kitas und
Kindertagespflege" legt eine geschlechter- und vorurteilsbewusste Pädagogik
fest: Erzieher*innen sollen Kinder bei der Entwicklung der eigenen
Geschlechtsidentität unterstützen und Stereotypen und einseitigen
Geschlechterrollen entgegenwirken sowie Methoden und Techniken kennen, wie man
Antifeminismus und Sexismus widersprechen kann, um diese vermitteln zu können.
Gleiches gilt für Lehrkräfte an Schulen: Qualifikationen in den
Kompetenzbereichen Gender und gesellschaftliche Vielfalt werden im
Lehrkräftebildungsgesetz zwar erwähnt, doch diese eigentlichen Kernkompetenzen
nehmen in den Aus- und Fortbildungen zu oft einen nachrangigen Stellenwert ein.
Dieses Missverhältnis wollen wir beheben und mehr Aufmerksamkeit für die
Wichtigkeit von geschlechtergerechter Bildung schaffen. Dabei soll der Fokus auf
Intersektionalität als Verständnis von Feminismus und der Lebensrealitäten der
Kinder und Jugendlichen gelegt werden.
Geschlechtergerecht im Unterricht
Laut dem Berliner Schulgesetz gehört die „Gleichstellung der Geschlechter“ zum
Auftrag der Schule. Auch weitere Ideale sind darin festgelegt, etwa dass „alle
erziehungs- und bildungsrelevanten Maßnahmen und Strukturen unter Einbeziehung
der Geschlechterperspektive und der interkulturellen Perspektive zu entwickeln
sind“ (§4) und Schüler*innen dazu befähigt werden "die Gleichstellung aller
Geschlechter auch über die Anerkennung der Leistungen der Frauen in Geschichte,
Wissenschaft, Wirtschaft, Technik, Kultur und Gesellschaft zu erfahren" (§3).
Leider entsprechen diese Ideale nicht der gelebten Realität an Berliner Schulen
und spiegeln sich auch nur bedingt in den Rahmenlehrplänen wider.
Der Anspruch Berlins, eine multikulturelle, diverse und auf Gleichberechtigung
ausgerichtete Stadt zu sein, muss sich auch in den Lehrinhalten der Schulen
widerspiegeln und vielfältige Perspektiven abbilden. Die Pflichtlektüren für das
Abitur und die Lektüreempfehlungen für die Sekundarstufe I beinhalten allerdings
fast ausschließlich männliche weiße Autoren, deren Werke zumeist heterosexuelle
Normativität vorleben. In den Vorgaben über die Pflichtlektüre zum Abitur für
Berlin und Brandenburg für das Jahr 2021 und 2022 findet sich etwa keine einzige
weibliche Autorin und keine nicht-weiße Autor*in. Dadurch wird Schüler*innen
suggeriert, dass Frauen, trans* und nicht-binäre und nicht-weiße Autor*innen in
der Literaturgeschichte nicht vorkamen und dass bedeutende Literatur nur von
weißen Männern geschrieben wird. Dies beeinflusst wiederum Schüler*innen darin,
was sie sich zutrauen und welche Perspektiven als relevant wahrgenommen werden.
Wir wollen daher, dass die Kriterien für die Entwicklergruppen zur Auswahl der
Pflichtlektüre in den Abiturprüfungen um eine Geschlechterperspektive ergänzt
werden und dass für die Sekundarstufe I konkretere Vorgaben gemacht werden, dass
auch weibliche und nicht-weiße Autor*innen im Unterricht gelesen werden sollen.
Durch Fortbildungen für Lehrkräfte und ein vielfältigeres Angebot im
Lehramtsstudium wollen wir die (angehenden) Lehrkräfte ermutigen und befähigen,
auch Texte jenseits des traditionellen Kanons im Unterricht zu behandeln und den
Schüler*innen so eine breitere Perspektive aufzuzeigen. Problematische Frauen-
bzw. Gesellschaftsbilder in der gewählten Lektüre müssen zwingend im Unterricht
problematisiert werden. Wir wollen nicht nur die Schullektüre diverser
gestalten. Auch in Fächern wie Geschichte und Politik sollen Frauen, trans* und
nicht-binären und nicht-weißen Personen endlich sichtbar werden.
Zur Gleichstellung aller Geschlechter gehört auch das vorurteilsfreie Besprechen
von Themen wie queerer Sexualität, trans* und Intergeschlechtlichkeit im
Biologieunterricht und insbesondere in der Sexualkunde. Der
Sexualkundeunterricht muss weg von einem reinen Fokus auf heterosexuelle cis
Personen und penetrativen Sex. Wir fordern, dass die gesamte Vielfalt von
Sexualität, Geschlecht und Sex behandelt wird, damit alle Schüler*innen
bestmöglich informiert sind und aufgeklärte Entscheidungen treffen können.
Keine Klischees bei der Berufswahl
Welche Interessen gefördert werden und welche Fähigkeiten Jungen und Mädchen in
ihrer Bildungsbahn zugetraut werden, kann großen Einfluss auf die Berufswahl
haben. In klassischen “Frauenberufen” werden deutlich niedrigere Löhne gezahlt
als in klassischen “Männerberufen”. Diskriminierung und eine geringere
gesellschaftliche Anerkennung für weiblich konnotierte Tätigkeiten, z.B. im
Care-Bereich, spielen hier eine bedeutende Rolle. Diese Verdienstungleichheit
zwischen den Geschlechtern steigt im Laufe des Erwerbslebens erheblich an und
beträgt beim Lebenserwerbseinkommen, dem sogenannten “Gender Lifetime Earnings
Gap”, knapp 50 Prozent (DIW 2017; DIW 2014). Junge Menschen bei der Berufswahl
zu begleiten und dazu zu ermutigen, gängige Geschlechterklischees zu
hinterfragen, kann die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männer- und
Frauenberufen aufbrechen und so zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen.
MINT-Förderung gezielt ausbauen
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind Bereiche, in denen
Mädchen und Frauen unterrepräsentiert sind – in den Leistungskursen, den
Ausbildungen oder Studiengängen, den Professuren oder der Berufswelt. Zwar
findet in eigenen Fächern bereits ein Umdenken statt und es studieren
beispielsweise deutlich mehr Frauen Mathematik als noch vor 10 Jahren, trotzdem
bleiben Professuren, gut bezahlte Jobs oder Entscheidungspositionen männlich
besetzt. Um das zu ändern, fordern wir, dass Berufsorientierungsmaßnahmen und
MINT-Förderung für Mädchen schon ab der Grundschule regelmäßig angesetzt werden
und durch alle weiterführenden Schulen fortgesetzt werden. Das soll nicht nur
einmal jährlich an einem besonderen Tag passieren, sondern zum Beispiel durch
den Ausbau der WAT-Unterrichts (Wirtschaft, Arbeit, Technik) gesichert werden.
Bereits in den Kindertageseinrichtungen sollen Kinder unabhängig vom Geschlecht
spielerisch mit Technik und Naturwissenschaft in Berührung kommen. Gezielte
Schnupperangebote in außerschulischen Bildungseinrichtungen sowie Initiativen
und Vereine, die die spielerische Vermittlung von MINT-Kompetenzen an Mädchen
zum Ziel haben, wollen wir stärker unterstützen. Im MINT-Bereich sind wir mit
einem extremen Fachkräftemangel konfrontiert, der uns nicht zuletzt bei der
Bekämpfung der Klimakrise Steine in den Weg legt. In der digitalen
Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft brauchen wir mehr Fachkräfte.
MINT-Förderung für Mädchen und junge Frauen ist also geschlechtergerecht,
nachhaltig sowie wirtschaftlich und ökologisch ein Gewinn für uns alle.
Feminismus geht uns alle an – Förderung von Jungenarbeit
Zu einer geschlechtergerechten Bildung gehört auch die Jungenarbeit. Jungen
bekommen in der Schule insgesamt schlechtere Noten und brechen häufiger die
Schule ab. Zwar verdienen Männer durchschnittlich mehr Geld als Frauen,
allerdings bleiben viele Jungen im Bildungsweg auf der Strecke und rutschen so
früh in die Armut. Geschlechterstereotype und ein veraltetes Bild von
Männlichkeit schränken auch Jungen dabei ein, ihre Interessen und Fähigkeiten zu
entdecken und zu entwickeln. Dafür unterstützen wir Jungenarbeit in der Schule
und außerschulische Angebote, die ein anderes Bild von Männlichkeit vermitteln
als der starke Mann, der nie weint und nicht um Hilfe bittet. Jungenarbeit
können Workshops sein, die sich mit der eigenen Gefühlswelt oder dem Prinzip von
Konsens auseinander setzen. Genauso begrüßen wir, dass mehr Männer als Erzieher
arbeiten und damit ein fürsorgliches Bild von Männlichkeit vermitteln.