Veranstaltung: | Frauen*Vollversammlung 2023 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 3 Leitantrag "Gegen Hass im Netz – gemeinsam und solidarisch" |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Frauen des Landesvorstands |
Eingereicht: | 01.09.2023, 10:49 |
Gegen Hass im Netz – gemeinsam und solidarisch
Beschlusstext
Digitale Gewalt ist eine Bedrohung für unsere Demokratie. Digitale Gewalt
schüchtert politisch Engagierte ein, sie attackiert Amts- und
Mandatsträger*innen ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die sich in
den politischen Diskurs einbringen. Menschen mit Diskriminierungserfahrungen
sind besonders betroffen, etwa jene, die Sexismus und gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit ausgesetzt sind. Mit Beleidigungen und Bedrohungen sollen
ihre Diskriminierungserfahrungen verstärkt und sie eingeschüchtert werden. Die
Konsequenz ist vielfach: Selbstzensur aus Selbstschutz.
Digitale Gewalt ist kein spontanes Phänomen: politische Akteur*innen im In- und
Ausland setzen digitale Gewalt systematisch und kampagnenartig ein, um Stimmen
aus dem Diskurs zu drängen und sie von der Teilhabe auszuschließen. Sie greifen
die freie und vielfältige Gesellschaft an, um Mehrstimmigkeit als Grundprinzip
der Demokratie einzuschränken.
Physische Gewalt ist mit digitaler Gewalt direkt verbunden: Angriffe im Netz
können die Vorstufe zu physischer Gewalt darstellen. Wir sehen das am Terror von
Halle und Hanau, an den Morden an Walter-Lübcke und in Idar-Oberstein, am Tod
von Lisa-Marie Kellermayr.
Frauen und Mädchen sind die größte und am häufigsten von digitaler Gewalt
betroffene Gruppe. Laut Plan International Deutschland haben 70 Prozent der
jungen Frauen in Deutschland im Internet bereits Bedrohungen oder Gewalt erlebt.
Dabei ist eine intersektionale Perspektive wichtig, denn in der Öffentlichkeit
sichtbare Frauen of Color, behinderte Frauen oder trans Frauen trifft besonders
viel Hass. Und auch Politikerinnen werden häufig zur Zielscheibe: Mehr als zwei
Drittel der weiblichen Bundestagsabgeordneten erhalten frauenfeindlichen Hass.
Frauen in Ehrenämtern und aus der Kommunalpolitik leiden besonders unter dem
Hass. Sie machen ehrenamtlich Politik und haben keine Mitarbeitenden, die sie
bei der Bewältigung von Hassnachrichten unterstützen. Dieser Hass hat ein klares
Ziel: ihre Stimmen aus dem Diskurs zu verdrängen. Das lassen wir nicht zu!
Digitale Gewalt hat viele Formen. Die wahrscheinlich bekannteste Form ist Hate
Speech, also Hass-Postings von oft anonymen Accounts in sozialen Netzwerken oder
Kommentarspalten, die die Betroffenen beleidigen, bedrohen, einschüchtern oder
falsche Behauptungen über sie verbreiten. Aber auch Identitätsdiebstahl,
Doxing1, Swatting2, Bloßstellung, Cybermobbing und Cyberstalking sind digitale
Gewalt.
Digitale Gewalt kommt auch im sozialen Nahfeld vor, etwa an Schulen oder in
Beziehungen, zum Beispiel wenn (Ex)-Partner*innen Betroffenen über digitale
Medien nachstellen, mit Stalkersoft- und hardware überwachen oder damit drohen,
intime Fotos und Videos zu veröffentlichen. Die Istanbul Konvention zum Schutz
von Gewalt gegen Frauen verpflichtet Deutschland dazu, gegen Stalking bzw.
Nachstellung vorzugehen und gesetzgeberische oder sonstige Maßnahmen zu treffen.
Wir setzen uns gegen alle Formen von digitaler Gewalt ein und fordern:
1. Strafverfolgung verbessern
Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei den Strafverfolgungsbehörden
fehlt noch immer das Bewusstsein für die Tragweite von digitaler Gewalt. In
Berlin kommt es immer wieder vor, dass Betroffene, die Anzeige erstatten wollen,
von Polizist*innen abgewiesen werden, weil diese nicht ausreichend geschult
wurden zu dem Thema und die Hürden in Bezug auf die Beweislast sehr hoch sind.
Es ist in Berlin bislang nicht möglich, digital Anzeige zu erstatten: zwar gibt
es ein Onlineportal, aber die Beweise müssen ausgedruckt und physisch
ausgehändigt werden. Das ist umständlich, erhöht die Hemmschwelle für die
Erstattung von Anzeigen und ist nicht mehr zeitgemäß. Deswegen fordern wir:
Polizei und Justiz müssen noch stärker für das Thema sensibilisiert und
die Kompetenzen der Strafverfolgungsbehörden zu digitaler Gewalt und
Hasskriminalität in der Aus- und Weiterbildung massiv verstärkt werden.
Bereits direkt bei der Erstattung von Anzeigen muss digitale Gewalt als
Hasskriminalität eingestuft werden können, damit die Vorgänge auch
wirklich bei den spezialisierten Abteilungen landen. Dabei müssen
obligatorisch und explizit mögliche rassistische, sexistische, queer- oder
behindertenfeindliche Motive erfragt werden.
Die Einrichtung einer Zentralstelle bei der Staatsanwaltschaft, die auf
das Thema digitale Gewalt spezialisiert ist.
Wir wollen Betroffenen einen niedrigschwelligen Zugang zu ihrem Recht
ermöglichen: Dazu müssen die Möglichkeiten der Online-Anzeigen ausgebaut
werden.
Anzeigemöglichkeiten und zivilrechtliche Schritte für Betroffene bekannter
zu machen und dafür ein Modellprojekt einer digitalen Gewaltschutzambulanz
zu finanzieren, die psychologische Unterstützung, technische Hilfe und
Beratung beim Stellen einer Anzeige bietet.
2. Beratungs- und Unterstützungsinfrastruktur ausbauen
Oftmals fühlen sich Betroffene bei digitaler Gewalt hilflos und alleingelassen.
Auch ist das Wissen um die technischen Aspekte, wie auch die Mechanismen
digitaler Gewalt nicht weit genug verbreitet. Diesem Missstand möchten wir eine
breite Beratungs- und Unterstützungsinfrastruktur entgegensetzen. Dabei ist es
uns wichtig, dass die Expertise von Betroffenen, zivilgesellschaftlichen
Gruppen, wie auch der Forschung bei jeglichen politischen Maßnahmen und
Gesetzesänderungen berücksichtigt und einbezogen wird. Um Betroffene von
digitaler Gewalt adäquat betreuen und schützen zu können, fordern wir:
Die Förderung und der Ausbau von Beratungs- und Unterstützungsangeboten
wie etwa Opferberatungsstellen, Frauenhäuser und das Anti-Stalking-Projekt
für Frauen. Um sich das notwendige technische Knowhow aneignen zu können,
müssen sie mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werden.
Die Hilfsinfrastruktur muss gefördert und ausgebaut werden: die unter R2G
geschaffene Fachstelle Cybergewalt bei FRIEDA und andere Beratungsstellen
benötigen weitere Ressourcen, um Betroffene betreuen und beraten zu
können. Dafür muss die Finanzierung der Informations- und Beratungsstellen
langfristig und nachhaltig gewährleistet sein.
Mitarbeiter*innen von Beratungs- und Hilfeprojekten benötigen regelmäßige
Aus- und Weiterbildungen zu verschiedenen Formen digitaler Gewalt und
ihrer Konsequenzen. Auch sollten sie die Möglichkeit erhalten, sich
technisch fortzubilden.
Auch Betroffene sollten Zugang zu Technikberatung und Hilfeleistung
erhalten: aktuell gibt es zu wenige Stellen, an die sich Betroffene und
deren Umfeld bei technik- und internetspezifischen Fragen wenden können.
Fachberatungsstellen benötigen zusätzliche finanzielle Mittel, um IT-
Fachpersonal hinzuziehen zu können und ihre eigene technische Ausstattung
und digitale Infrastruktur abzusichern.
Der Opferschutz muss ins Zentrum des Kampfes gegen digitale Gewalt rücken:
Betroffene brauchen Unterstützung bei dem Schutz ihrer Daten, ihre
Informationsrechte über den Verlauf von Ermittlungen muss gestärkt werden
und die Polizei soll an Organisationen wie HateAid vermitteln.
3. Bewusstsein für digitale Gewalt stärken
Vielfach ist das Wissen um digitale Gewalt noch nicht vorhanden – nicht in der
Gesellschaft, nicht bei Institutionen. Auch Betroffene wissen oftmals nicht,
dass das, was sie erfahren, digitale Gewalt ist und nicht „normal“. Daher wollen
wir:
Aufklärung über die Möglichkeiten, sich vor digitaler Gewalt in der
öffentlichen Sphäre, aber auch im Nahfeld zu schützen bzw. sich dagegen
zur Wehr zu setzen speziell für junge Menschen, Frauen und Menschen mit
Diskriminierungserfahrungen.
Öffentliche Debatte zu geschlechtsspezifischen Aspekten von digitaler
Gewalt und Hate Speech und der Verschränkung mit anderen
Diskriminierungsformen wie Rassismus, Antisemitismus oder
Behindertenfeindlichkeit.
Awarenesskampagnen durch öffentliche Institutionen und Politik, die für
verschiedene Formen digitaler Gewalt sensibilisieren, Betroffenen
vermitteln, wo sie Hilfe erhalten und Nicht-Betroffenen erklären, wie sie
unterstützen können.
Medienkompetenz, Aufklärung über die Folgen von digitaler Gewalt und
Awareness schon bei Schüler*innen fördern – ohne dass als Bedingung dafür
die Nutzung vorausgesetzt wird. Dazu gehört auch der Ausbau der
Medienbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, um die
Sensibilität zu erhöhen, Betroffene zu stärken und Taten vorzubeugen.
Mehr Bewusstsein über Victim Blaming: Die Verantwortung für
Gewalterfahrungen bei den Betroffenen zu suchen („Dann geh doch nicht ins
Internet“) ist Teil unserer Rape Culture und erschwert es Betroffenen,
sich zu wehren und gegen digitale Gewalt vorzugehen.
4. Forschung
Beim Thema digitaler Gewalt bestehen noch große Forschungslücken. Daher wollen
wir die Wissenschaft, aber auch die Zivilgesellschaft dabei unterstützen, diese
Lücken zu schließen und ein fortwährendes Monitoring zu etablieren. Dazu wollen
wir:
Im Berliner Monitoring zur Versorgungssituation von Gewalt betroffener
Frauen in Berlin den Phänomenbereich der digitalen Gewalt konkret
berücksichtigen: Es gibt bisher keine verlässliche, umfassende Erfassung
und kein Monitoring neuer Phänomene.
Wir brauchen aussagekräftige Studien über Ausmaß und Ausprägung digitaler
geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland, die auch intersektionale
Aspekte berücksichtigen. Das Gutachten „Geschlecht und Gewalt im digitalen
Raum“ für den Dritten Gleichstellungsbericht ist dabei ein guter Anfang,
zeigt aber auch auf, wo weiterhin Forschungslücken bestehen: Es fehlen
aktuelle repräsentative Daten und Dunkelfeldstudien.
Weitere wichtige Forschungslücken sind die materiellen und psychosozialen
Folgen von digitaler Gewalt und die Verknüpfung von analoger und digitaler
Gewalt. Solche Projekte müssen gefördert und ausgebaut werden.
5. Bundesebene
Wir setzen uns dafür ein, dass das Thema digitale Gewalt auch auf Bundesebene
stärker berücksichtigt wird. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung an einem
Gesetz gegen digitale Gewalt arbeitet. Allerdings muss die Kritik von Verbänden
(z.B. HateAid) am Eckpunktepapier für ein neues Gesetz gegen digitale Gewalt im
Gesetzgebungsverfahren im Bundestag berücksichtigt werden. Dafür werden wir uns
auf Bundesebene einsetzen. Außerdem muss digitale geschlechtsspezifische Gewalt
Berücksichtigung in der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung und in der
Gesamtstrategie zur Umsetzung der Istanbul Konvention finden.
Die „Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet“ des BKA soll
besser ausgestattet und bekannter gemacht werden.
Die gemeinnützige Organisation HateAid muss weiter über Bundesmittel
gefördert werden, wenn wir wollen, dass Frauen weiterhin gegen Hass im
Netz unterstützt und empowered werden.
Die bisher existierenden Melderegistersperrungen des Bundesmeldegesetzes
sind unzureichend um vor Doxing zu schützen und werden nicht konsequent
eingehalten, hier muss gesetzlich dringend nachgebessert werden. Wir
setzen uns dafür ein, die Hürden zur Erwirkung einer Auskunftssperre im
Melderegister für Gewaltbetroffene, Berater*innen und gefährdete
zivilgesellschaftliche Akteur*innen zu senken.
Wir setzen uns dafür ein, die Regelungen zum Umgang mit der bestehenden
Impressumspflicht im Telemediengesetz so anzupassen, dass die
Erreichbarkeit von Seiten- und Blogbetreiber*innen gesichert ist, sie
dadurch aber keiner Gefährdung ausgesetzt sind.
1Doxing bezeichnet das Veröffentlichen von persönlichen Daten ohne Zustimmung,
z.B Wohnadresse oder Telefonnummer der betroffenen Person.
2Beim sogenannten Swatting gehen unter falschen Behauptungen Notrufe ein, die
einen Polizeieinsatz bei der betroffenen Person auslösen.