Veranstaltung: | Frauen*Vollversammlung 2023 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 6 Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bahar Haghanipour |
Eingereicht: | 30.08.2023, 12:07 |
Intersektionale Perspektive für Gewaltschutz als Leitlinie
Beschlusstext
An jedem Tag versucht in Deutschland ein (Ex-)Partner eine Frau umzubringen. Die
Istanbul Konvention zur Bekämpfung und Verhütung von Gewalt gegen Frauen und
häuslicher Gewalt verpflichtet uns, allen Frauen Schutz vor Gewalt zu bieten.
Bei der Umsetzung der Konvention ist eine Diskriminierung in der Anti-Gewalt-
Arbeit verboten. Alle betroffenen Frauen müssen angebotene
Unterstützungsleistungen annehmen können. Dies betrifft besonders Frauen mit
Behinderung, wohnungslose Frauen, lesbische Frauen, Trans- und Interpersonen,
Sexarbeitende und geflüchtete oder migrantisierte Frauen. Denn bei Frauen mit
intersektional verschränkten Diskriminierungsmerkmalen, also mit
Mehrfachdiskriminierung, können die Barrieren höher sein, das Hilfesystem in
Anspruch zu nehmen. Wenn beispielsweise kaum ein Frauenhaus barrierefrei
gestaltet ist, hat eine akut von Gewalt betroffene Frau im Rollstuhl größere
Schwierigkeiten, einen Schutzplatz zu finden.
Das Diskriminierungsverbot der Istanbul Konvention muss auch in der Gestaltung
der Gewaltschutzmaßnahmen in Berlin berücksichtigt werden. Denn alle Frauen in
Berlin haben den bestmöglichen Schutz gegen Gewalt verdient.
Wir Bündnis 90/Die Grünen in Berlin setzen uns ein für
● intersektionale Schutzkonzepte und Leitbilder für das Hilfesystem
● ein Angebot von Schulungen zur Sensibilisierung des Personals, so z.B. auch
die Einrichtung von zielgruppenspezifischen Anlaufstellen: Beratungs- und
Unterstützungsangebote für z.B. migrantisierte Frauen, queere Frauen oder
Sexarbeitende
● eine angemessene Bezahlung der Arbeit der Mitarbeiter*innen im Hilfesystem,
angelehnt an den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes
● einen Pool für die Finanzierung von Sprach- und/oder Kulturmittlung sowie
mehrsprachig erstelltes Informationsmaterial
● dort, wo es geht, Baumaßnahmen für mehr Barrierefreiheit, um z.B. für Menschen
im Rollstuhl oder Gehörlose Aufenthalte und Beratungsmöglichkeiten zu
ermöglichen
● den Ausbau von Angeboten zur Kinderbetreuung und zur Unterbringung von Kindern
in Beratungsstellen und Unterkünften
● das Vorhaben der Bundesregierung einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen zu
erarbeiten, um den Schutz und Beratung für alle Betroffenen sicherzustellen.
Hierbei muss eine intersektionale Perspektive berücksichtigt werden.
Begründung
Am 11. Mai 2011 wurde „Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“ (kurz Gewaltschutzkonvention Istanbul-Konvention) von 41 Staaten unterschrieben. Der völkerrechtlich bindende Vertrag ist am 1.2.2018 in Deutschland als Gesetz in Kraft getreten. Den Stand der Umsetzung in Berlin hat das Berliner Forum Gewaltprävention unter der Herausgeberinnenschaft der Landeskommission Berlin gegen Gewalt im Jahr 2022 veröffentlicht.
Die Istanbul Konvention stärkt vulnerable Gruppen. Konkret wird im Erläuternden Bericht (Rn. 87) ausgeführt, welche Personengruppen im Sinne des Übereinkommens als besonders schutzbedürftig anzusehen sind, auch weil sie sich auf Grund der besonderen Umstände weniger zu wehren wissen und somit eher ins Visier von Gewalttätern geraten[JM1] : „schwangere Frauen und Mütter von Kleinkindern, behinderte Personen einschließlich Personen mit kognitiven oder geistigen Einschränkungen, in ländlichen oder abgeschiedenen Gegenden lebende Personen, Konsumenten toxischer Substanzen, Prostituierte, Angehörige einer ethnischen oder nationalen Minderheit, Migrantinnen und Migranten – insbesondere Migrantinnen/Migranten und Flüchtlinge ohne Papiere, Homosexuelle, Bisexuelle oder Transsexuelle, sowie HIV-positive Personen, Obdachlose, Kinder und alte Menschen" (S. 58 der Istanbul Konvention).
Wir Bündnis 90/ Die Grünen stehen für eine progressive Frauenpolitik. Die Intersektionale Perspektive in der Gleichstellungspolitik, die Mehrfachdiskriminierungen anerkennt und berücksichtigt, ist deshalb unser Anspruch. Der Begriff Intersektionalität kommt aus englischsprachigen feministischen Diskussionen und bezieht sich auf die Verschränkung verschiedener Diskriminierungmerkmale. Unterschiedliche soziale Kategorien wie Geschlecht, soziale Klasse und Ethnizität, aber auch Sexualität, Nationalität, Sprache, Gewicht oder Behinderung wirken sich im Zusammenspiel auf gesellschaftliche Benachteiligungen oder Privilegierungen aus.
Diese Perspektive wollen wir vollumfänglich in der Anti-Gewalt-Arbeit umgesetzt sehen. Daher muss das Hilfesystem so ausgestattet werden, dass alle Frauen in Berlin sie bei Bedarf in Anspruch nehmen können.