Veranstaltung: | Frauen*Vollversammlung 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 3 Weitere Anträge |
Antragsteller*in: | Miriam Siemon, Anna Hoppenau, Irina Herb, Jutta Brennauer, Vivian Weitzl, Sumona Dhakal, Sarah Schneider (KV Neukölln) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 07.09.2020, 12:39 |
V-01: Selbstbestimmung und gelebte Vielfalt - Für ein Ende der Diskriminierung kopftuchtragender Frauen im Berliner öffentlichen Dienst und damit für die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes
Antragstext
Unser grüner Feminismus ist inklusiv, intersektional und plural. Mit voller Überzeugung
setzen wir uns für ein grünes Berlin ein, in dem Alle selbstbestimmt und gut leben können
und jegliche Formen von Diskriminierung und Marginalisierung überwunden werden. Wir erkennen
an, dass wir Frauen alle von Sexismus und patriarchalen Strukturen betroffen sind, einige
von uns aber gleich mit mehrfachen Diskriminierungsformen zu kämpfen haben. Gerade in
Zeiten, in denen rechte, antifeministische und rassistische Kräfte errungene Rechte und
Freiheiten einschränken und uns als plurale Gesellschaft auseinander drängen wollen, sind
wir solidarisch miteinander.
Um Gerechtigkeit für Alle umzusetzen, müssen wir stets einen (selbst-)kritischen Blick
darauf werfen, ob unser Feminismus und unsere Politik tatsächlich für alle Menschen da ist –
oder eben nur einige mitdenkt und deren Lebensentwürfe und Entscheidungen als die Norm setzt
und damit Rassismus und Diskriminierungsformen reproduziert. Unser Anspruch an uns selbst
ist es darum, unsere eigene Ausschlussmechanismen und diskriminierenden Sprach- und
Handlungsweisen zu erkennen und diese möglichst abzubauen. Wir wollen immer wieder kritisch
auf uns blicken und prüfen, ob und wo wir uns weiter entwickeln müssen. Außerdem ist es
unser Anspruch, Frauen, die von (antimuslimischen, Anti-Schwarzen) Rassismus, Antiromaismus/
Antisintiismus, Antisemitismus oder anderen Diskriminierungen betroffen sind, aktiv für
unsere Politik zu gewinnen, ihren Perspektiven Raum zu bieten und die Hürden für ihre
Teilnahme und Repräsentation abzubauen. Denn: Wir wollen nicht Politik stellvertretend für,
sondern mit Menschen selbst machen.
Wenn Frauen, die ein Kopftuch tragen, weder als Lehrer*innen an staatlichen Schulen, noch
als Polizist*innen oder hoheitlich tätige Justizbedienstete arbeiten können, dann steht das
ganz klar im Widerspruch zu unserem Feminismus. Denn: Wir setzen uns für die Ermächtigung
und Selbstbestimmung aller Frauen ein!
Für die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes
Deshalb wollen wir das Berliner Neutralitätsgesetz abschaffen. Das Bundesverfassungsgericht
hat bereits 2015 die Rechtmäßigkeit eines pauschalen Verbots des Kopftuchs an Schulen
hinterfragt. Jüngst hat das Bundesarbeitsgericht das pauschale Kopftuchverbot, das aus dem
Berliner Neutralitätsgesetz folgt, als nicht verfassungskonform bezeichnet: Das Tragen eines
Kopftuchs könne einer Lehrerin nur dann verboten werden, wenn belegt wird, dass sie durch
ihr Verhalten konkret den Schulfrieden gefährden würde. Auch wir Grüne Frauen in Berlin
haben 2018 in der Frauen*Vollversammlung festgehalten, dass der Streit um das
Neutralitätsgesetz nicht weiter auf dem Rücken kopftuchtragender Frauen ausgetragen werden
darf. 2019 haben wir uns im Bundesfrauenrat für die Selbstbestimmung von Frauen und gegen
ein pauschales Verbot des Kopftuchs ausgesprochen. Dies gilt konsequenterweise für alle
Bereiche (Schule, Rechtspflege, Polizei), wenn auch für Veränderungen in unterschiedlichen
Bereichen unterschiedliche Prozesse benötigen werden.
Vor diesem Hintergrund setzen wir Grüne Frauen eine klare Botschaft: Für die
Gleichberechtigung aller Frauen und gegen Bevormundung. Ein Kopftuchverbot im öffentlichen
Dienst löst keine patriarchalen Strukturen, sondern führt zur Diskriminierung und
Entmündigung von kopf-tuchtragenden Frauen.
Für eine plurale Demokratie auf Basis geteilter Werte statt vermeintlicher Neutralität
Begründet wird das Gesetz damit, dass Menschen in staatlichen Institutionen keiner
religiösen oder weltanschaulichen Beeinflussung ausgesetzt sein dürfen (d.h. es geht um den
Schutz ihrer ‚negativen Religionsfreiheit‘). Eine solche Beeinflussung sieht das Gesetz im
Tragen sichtbarer religiöser Symbole. Wir halten es jedoch für grundlegend falsch, eine
mögliche religiöse oder weltanschauliche Beeinflussung allein auf Grund des Äußeren zu
unterstellen. Auch gerichtlich wurde bereits festgehalten, dass keine abstrakte Gefahr von
kopftuchtragenden Lehrerinnen nachgewiesen werden könne und damit die negative
Religionsfreiheit nicht per se eingeschränkt ist.
Die Idee des Gesetzes ist, dass Staatsbedienstete in ihrem Auftreten ein bestimmtes Bild von
vermeintlicher Neutralität verkörpern sollen. Wenn wir Neutralität und das Recht auf
negative Religionsfreiheit fordern, müssen wir genauer hinschauen: Kein*e Lehrer*in,
Richter*in oder Polizist*in ist vollkommen neutral und frei von eigenen Wertvorstellungen
und Weltanschauungen. Dies ist auch keine Bedingung für den Staatsdienst. Kein Mensch legt
ihr Äußeres oder ihre Weltanschauungen gänzlich ab, auch nicht beim Schlüpfen in eine
staatliche Robe oder Uniform. Sowohl sexistisch und rassistisch zugeschriebene Merkmale wie
Geschlecht und Hautfarbe, als auch Habitus aufgrund von Klasse oder kulturelle Symbole (wie
zum Beispiel Eheringe) bleiben immer sichtbar oder fließen implizit in das Denken, Bewerten
und das Handeln der Person ein. Neutral muss (und kann) nicht der Mensch sein, neutral muss
der Staat gegenüber den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sein. Das bedeutet,
dass er niemanden bevorzugen oder benachteiligen darf. Das ist der Kern des staatlichen
Neutralitätsgebots. Dies bedeutet: Staatsbedienstete im öffentlichen Dienst können und
müssen nicht neutral sein, sondern sich klar zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung im
Sinne des Grundgesetzes bekennen. Das ist für alle Menschen Grundlage, um an staatlichen
Schulen zu lehren oder in der Justiz tätig zu sein, um Bürger*innen zu beraten und zu
schützen. Dieser Anspruch ist zum Beispiel für Lehrer*innen bereits im Beutelsbacher Konsens
verankert und wird durch das Überwältigungs- und Missionierungsverbot gestützt. Und wir
halten dies auch für wichtig. Dass allein ein sichtbares religiöses Symbol mit der
Unfähigkeit gleichgesetzt wird, eine Berufstätigkeit auf Basis der Grundsätze unserer
Verfassung auszuüben, halten wir Grüne hingegen für einen Trugschluss und diskriminierend.
Gegen Diskriminierung: Das Neutralitätsgesetz trifft nicht alle Religionen gleich
Kopftuchtragenden Frauen wird durch das Neutralitätsgesetz entweder die freie Berufswahl im
Sinne der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit verwehrt (Art. 2, Art. 12 GG) oder aber ihr
Recht auf Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und Diskriminierungsfreiheit aufgrund des Glaubens
und der religiösen Anschauung (Art. 3 GG) beschnitten.
Zwar verbietet das Gesetz allen religiösen Gruppen das Tragen sichtbarer Symbole, aber nicht
alle Religionen sind gleichermaßen von dem Verbot betroffen. Das Gesetz diskriminiert
bestimmte religiöse Gruppen: Während ein Kreuz unter dem Hemd getragen werden kann und viele
Religionsgemeinschaften auch gänzlich ohne Symbole leben, kann eine Kippa, ein Sikh-Turban
oder eben ein Kopftuch nicht einfach unsichtbar gemacht werden, ohne die Person als solche
aus dem öffentlichen Dienst auszuschließen. Das Gesetz diskriminiert deshalb solche
Religionen, für die ein sichtbares Kleidungsstück Teil ihrer religiösen Ausübung ist. Es
spricht Menschen, zu deren Religiosität bestimmte sichtbare Kleidungsstücke gehören, qua
Äußerem die Fähigkeit ab, im besten Sinne des Staates hoheitliche Tätigkeiten ausüben zu
können. In Berlin betrifft dies im Besonderen kopftuchtragende Frauen. Daher kommt das
Neutralitätsgesetz einem partiellen Berufsverbot für sie gleich.
Unser grüner, intersektionaler Feminismus nimmt nicht nur individuelle, sondern auch
strukturelle Diskriminierungen, wie sie zum Beispiel von Gesetzen ausgehen können, in den
Blick. Deshalb sprechen wir uns entschlossen dagegen aus, wenn eine Gruppe von Frauen
strukturell benachteiligt wird.
Für Selbstbestimmung und Empowerment und gegen Bevormundung
In der öffentlichen und politischen Debatte wird das Kopftuch zum Teil pauschal als anti-
feministisch gehandelt. Dies sehen wir als eine diskursive Bevormundung. Es ist eine
unangebrachte Verkürzung, das Kopftuch pauschalisierend als Zeichen patriarchaler
Unterdrückung zu lesen – eine Lesart, die auch gerne von rechten Kräften gegen Muslim*innen
genutzt wird und gegen die wir uns geschlossen stellen. Für unseren Feminismus ist
Selbstbestimmung zentral: Wir bevormunden uns untereinander nicht, sondern stehen
solidarisch nebeneinander. Dazu gehört: Jede Frau entscheidet selbst für sich, was sie
tragen, woran sie glauben möchte. Wir schauen genau hin und diskutieren auf Augenhöhe, statt
pauschale Annahmen über die Entscheidungen einer jeden von uns zu treffen. Denn wir setzen
uns auf allen Ebenen für Solidarität, Selbstbestimmung und Empowerment ein.
Für eine gelebte Pluralität, in der Vielfalt nicht unsichtbar gemacht wird
Die vermeintliche Neutralität des Neutralitätsgesetzes bedeutet konkret, dass
kopftuchtragende Frauen aus Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen und damit
unsichtbar gemacht werden.
Wir wünschen uns stattdessen eine Stadt, in der die reale Vielfalt auch in allen
Hierarchieebenen und Bereichen des öffentlichen Dienstes und in der Berliner Verwaltung eine
sichtbare Vielfalt ist und entsprechend repräsentiert wird. Dabei geht es um elementare
Grundrechte und gerechte Teilhabe von marginalisierten Gruppen. Es geht aber auch darum,
dass eine sichtbare Diversität und die Repräsentation marginalisierter Gruppen an
staatlichen Stellen unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Gerade Kinder und junge
Menschen sollen an Schulen ermutigt werden Vielfalt wertzuschätzen, Gemeinsamkeiten zu
entdecken und stereotype Zuschreibungen, und Vorurteile und rassistische Denkmuster zu
hinterfragen und aufzubrechen. Menschen auf ihr Aussehen oder ihre Kleidung zu reduzieren –
wie zum Beispiel durch das Tragen eines als religiös markierten Symbols – wird der Vielfalt
und Komplexität, in der wir leben, nicht gerecht. Religiösen Menschen per se abzusprechen,
sie könnten nicht im Sinne des Staates handeln bzw. diesen verkörpern, ist im Kern
antipluralistisch und antidemokratisch. Als intersektionale Feminist*innen denken wir
insbesondere an die Herausforderungen, die Muslim*innen mit Kopftuch in unserer von
Rassismus und Sexismus geprägten Gesellschaft erleben. Dabei wird klar: In öffentlichen
Institutionen müssen Mechanismen, Regeln, Normen und Routinen, die kopftuchtragende Frauen
systematisch ausschließen bzw. benachteiligen, abgebaut werden statt diese von bestimmten
Funktionen auszuschließen.
Des Weiteren stehen wir dafür ein, mögliche Debatten im Umgang mit Religion insbesondere im
Kontext der Schule nicht schlichtweg unsichtbar zu machen und damit zur Seite zu schieben.
Statt Fragen rund um Religion und Weltanschauung durch die Verbannung sichtbarer Symbole
beiseite zu schieben, muss die Schule zu einem Raum werden, in dem Debatten geführt und
junge Menschen in ihrer Selbstbestimmung und ihren diskriminierungskritischen Kompetenzen
bestärkt werden. Kindern und jungen Menschen ist wenig geholfen, wenn Kopftücher pauschal
aus ihrem Schulalltag verbannt werden. Stattdessen braucht es gute Diversity-Konzepte an
Schulen, sodass junge Menschen lernen, sich in wichtigen gesellschaftlichen Fragen
selbstbestimmt zu positionieren. Das Recht auf negative Religionsfreiheit bedeutet nämlich
nicht, Religion nicht sehen zu müssen. Es bedeutet vielmehr, dass wir in einer religiös- und
weltanschaulich pluralen Gesellschaft nicht übermäßig bzw. unausgeglichen beeinflusst und
damit in unseren Handlungs- und Entscheidungsoptionen eingeschränkt werden. Ein solcher
bewusster und reflektierter Umgang muss gelernt werden – von Schüler*innen und auch von
Lehrkräften.
Es geht auch um Vorbildfunktion: Für Frauen, die ein Kopftuch tragen, braucht es
Ansprechpartner*innen und starke Vorbilder – mit und ohne Kopftuch. Hier können Lehrer*innen
und Beamt*innen mit Kopftuch eine Chance sein – als Brückenbauer*innen und als Vorbilder.
Daher setzen wir uns für die Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes ein
Was wir für den Bereich der Schule argumentiert haben, gilt auch für die Justiz und die
Polizei, auch wenn Staatsbedienstete dort in einem anderen Verhältnis zu Bürger*innen
stehen. Wir sind davon überzeugt, dass Menschen nie neutral sein können, sondern sich in
ihrer Rolle als Staatsbedienstete an demokratische Grundrechte und das Überwältiguns- und
Missionierungsverbot zu halten haben und mögliche religiöse Debatten nicht durch die
Verbannung sichtbarer Symbole gelöst werden. Dies gilt konsequenterweise für alle Bereiche,
wenn auch für Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Prozesse
benötigen werden.
Aus diesen Gründen fordert die Frauen*vollversammlung/Frauen*konferenz von Bündnis 90/Die
Grünen Berlin die Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetz. Sollte es 2021 zu Sondierung-
oder Koalitionsverhandlungen unter grüner Beteiligung kommen, muss die Abschaffung dieses
Gesetzes von besonderer Priorität sein.
Begründung
Weitere Antragsteller*innen:
Filiz Keküllüoğlu-Abdurazak, Deniz Yıldırım-Caliman (jeweils KV Friedrichshain-Kreuzberg), Tuba Bozkurt (KV Mitte), Fatoş Topaç (KV Kreisfrei), Gülşah Bayar (KV Steglitz-Zehlendorf), Ingrid Bertermann, Rounak Omar, Maha Abdulkarim (jeweils KV Mitte), Sandy Krone (KV Steglitz-Zehlendorf), Magdalena Matheis, Seyran Osman, Sana Zahrani, Asma Hweja (jeweils KV Mitte), Johanna Haffner, Miriam Wirsing, Elisa Himbert (jeweils KV Friedrichshain-Kreuzberg), Dinah Schmechel, Mila Rabini, Nina Locher, Cornelia Hagemann, Julia Hübner, Theresa Ruwe, Sarah Flemming (jeweils KV Mitte)
Unterstützer*innen
- Susanna Kahlefeld (KV Neukölln)
- June Tomiak (KV Kreisfrei)
- Julia Dittmann (LAG Frauen* und Gender)
- Bahar Haghanipour (LAG Frauen* und Gender)
- Santina Wey (KV Tempelhof-Schöneberg)
- Svenja Borgschulte (KV Pankow)
- Annka Esser (Grüne Jugend)
- Laura Dornheim (KV Lichtenberg)
- Juliana Wimmer (KV Mitte)
- Gollaleh Ahmadi (KV Spandau)
- Aida Baghernijad (KV Friedrichshain-Kreuzberg)
- Carola Scheibe-Köster (KV Neukölln)
- Meret Weber (KV Neukölln)
- Meike Berg (KV Neukölln)