Veranstaltung: | LDK am 28. Oktober 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 8 Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Hanna Steinmüller (KV Berlin-Mitte) |
Status: | Zurückgezogen |
Eingereicht: | 22.02.2020, 09:09 |
V39: Die wachsende Stadt braucht eine Umweltgerechtigkeitsstrategie
Antragstext
Wer an lauten, stinkigen Straßen lebt, wird krank. Doch nicht nur Verkehr erzeugt
Dauerstress. Wer in hoch verdichteten Quartieren lebt, leidet besonders unter warmen
Temperaturen im Sommer. Das gilt besonders, wenn es nicht ausreichend Grünflächen in der
Nachbarschaft gibt. Aber Umweltbelastungen wie Verkehrslärm, Luftverschmutzung,
unzureichende Grün- und Freiflächenversorgung und schlechte bioklimatische Bedingungen sind
ungleich in der Stadt verteilt. Gerade in den Quartieren, die mit mehreren Stressfaktoren
belastet sind, gibt es oft auch ausgeprägte soziale Problemlagen. Dieses Zusammenspiel von
Umweltqualität, sozialer Lage und Gesundheit wird vom Konzept der Umweltgerechtigkeit
erfasst und bewertet. Gute Umweltverhältnisse und damit Umwelt(un)gerechtigkeit sind
räumlich unterschiedlich verteilt in Berlin. Hier wollen wir gegensteuern! Berlin 2030 soll
überall in der Stadt gesundheitlich unbedenkliche Umweltverhältnisse aufweisen!
Bündnis 90/ Die Grünen Berlin stehen für Umweltschutz genauso wie für vorbeugenden
Gesundheitsschutz und für Sozialpolitik. Wir können das eine nicht ohne das andere denken.
Gesundheitlich und ökologisch gleichwertige öffentliche Räume prägen in der Stadt die
Chancengleichheit, die Lebensqualität und auch die Teilhabemöglichkeiten. Wichtig ist
hierbei, die Ist-Situation (Berlin heute) für die Betroffenen in den mehrfach belasteten
Quartieren transparent und nachvollziehbar dazustellen und klare Handlungsziele zu
formulieren.
Schon im Koalitionsvertrag 2016 haben wir uns zur Anwendung der
Umweltgerechtigkeitskriterien bekannt und erste Schritte umgesetzt. Nun gilt es, das Konzept
der Umweltgerechtigkeit für die Stadtentwicklungsziele 2030 zu aktualisieren und anzuwenden.
Unser Ziel heißt: Gesunde Lebensbedingungen für alle – unabhängig vom Wohnort und der
sozialen Lage!
Das Konzept zur Umweltgerechtigkeit bewertet die Umweltbedingungen anhand von vier
Kernindikatoren, die alle Einfluss auf die Gesundheit haben: Luft(-verschmutzung), Lärm,
thermische Belastungen (städtische Wärmeinseln) und Grünflächenversorgung. Außerdem wird die
soziale Problemdichte berücksichtigt. Die gesundheitlichen Belastungen durch schlechte
Umweltverhältnisse sind räumlich unterschiedlich verteilt – und können zusammenwirken. Die
oben genannte große Straße führt zu Lärm, Emissionen und im Sommer zu „tropischen Nächten“,
wenn sich der Beton aufheizt.
Die Idee der Umweltgerechtigkeit ist es, diese unterschiedlichen Belastungen
zusammenzudenken und auch räumlich zu betrachten. Dazu werden Belastungskarten erstellt, die
auf Quartiersebene alle Belastungen zeigen. Berlin ist mit diesen Mehrfachbelastungskarten
Vorreiter in Deutschland, allerdings sind die Daten veraltet und müssen den Veränderungen
durch die wachsende Stadt angepasst werden. Die Karten zeigen, dass und auch wo sozial
Schwächere dreifach, vierfach oder fünffach belastet sind und diese umweltbedingten
Stressfaktoren sich negativ auf die Gesundheit und Lebenserwartung auswirken. Wir wollen die
bestehende Ungerechtigkeit beenden und für die Zukunft Verschlechterungen vermeiden. In
Berlin wird viel neu gebaut. Gerade bei parallelen Projekten wollen wir, dass das Konzept
der Umweltgerechtigkeit zur Planungsprämisse wird, um Überlastungen der Umwelt,
Unterversorgung mit Grünflächen und daraus folgende gesundheitsgefährdende Ungerechtigkeiten
zu vermeiden. Daher brauchen wir einen Stadtentwicklungsplan Umweltgerechtigkeit und eine
gemeinsame gesamtstädtische Steuerung durch die die Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung,
Gesundheit und Verkehr unter Beteiligung der Bezirke.
Die Neugestaltung der öffentlichen Räume braucht eine Umweltgerechtigkeitsstrategie
Berlin erneuert seine öffentliche Infrastruktur. Die „wachsende Stadt“ hat zur Folge, dass
die verschiedenen Politikfelder jeweils eigene Zielvorgaben formulieren, die sämtlich ihre
Bedeutung im Titel tragen: Der Masterplan Wohnungsbau, die Schulbauoffensive, die
Verkehrswende, sind nur die prominentesten Beispiele. Sie alle formulieren fachpolitische
Ziele, die direkt oder indirekt den öffentlichen Raum verändern und ihn beanspruchen. Dabei
ist allen klar: Öffentliche Flächen gehören zwar der Allgemeinheit, können aber gerade
deshalb nur begrenzt die Folgen von Klimawandel, wachsender Stadt und Verkehrszunahme
kompensieren. Umweltressourcen wie saubere Luft, Stille, Bioklima und Boden sind vielerorts
überlastet. Die Verteilungskonflikte um Straßenflächen kennen und sehen wir „an jeder Ecke“.
Die Ökosystemdienstleistungen des öffentlichen Raumes erfordern eine gezielte Entwicklung
und einen integrierten Schutz, der über Naturschutzflächen weit hinausreicht und nicht
zuletzt dem Gesundheitsschutz und der Lebensqualität aller Menschen in der Stadt dient.
Angesichts der vielen öffentlichen Bauvorhaben gilt es jetzt, den gesamten lokalen
Handlungsbedarf inklusive der gesundheitlichen (und ökologischen) Folgewirkungen in den
Blick zu nehmen, Zielkonflikte zu erkennen und vordringliche Maßnahmen in der Arbeitsplanung
voran zu stellen.
Diese Aufgabe ist komplex, aber die Daten liegen bereits an verschiedenen Stellen vor und
die Umweltgerechtigkeitsstrategie bietet ein Bewertungs- und Zielkonzept an, auf das wir
aufbauen können und müssen.Denn: Berlin baut nicht mehr punktuell, sondern in vielen
parallelen Projekten, zu deren Kombinationswirkungen keine aktuellen Daten verfügbar sind.
Für die Umsetzung braucht es daher eine gemeinsame Anstrengung der zuständigen
Senatsverwaltungen und der Bezirke.
Mehrfachbelastungen zeigen vordringlichen Handlungsbedarf
Das Robert Koch Institut ermittelte, dass die lange Hitzeperiode im Sommer 2018 in Berlin
490 zusätzliche Sterbefälle verursachte. Hochbetagte Menschen waren fünfmal so stark
betroffen wie Menschen unter 75 Jahre, dicht bebaute und hoch versiegelte Quartiere weisen
ebenfalls klar erhöhte gesundheitliche Risiken bei Hitzestress auf. Die Risiken des
Klimawandels treffen die Menschen in dieser Stadt unterschiedlich wegen ihrer subjektiven
Empfindlichkeit, aber auch wegen ihres baulichen Wohnumfelds und der Nutzungen des
öffentlichen Raumes.
Die Verkehrsprognosen für 2030 gehen von weiterhin wachsendem Verkehrsaufkommen im
motorisierten Individualverkehr aus. Daraus folgen zunehmende Luft- und Lärmbelastung für
die Bevölkerung an den betroffenen Bahn- und Straßenabschnitten, wobei die Nachverdichtungen
zu einer höheren Anzahl an betroffenen Personen führen und sich somit zwei Entwicklungen
negativ verstärken.
Grenzwertüberschreitungen werden derzeit für Stickstoffdioxid mit erheblichem Aufwand
reduziert.
Aber neben Stickstoffdioxid sind weitere gesundheitsrelevante Schadstoffe in den Blick zu
nehmen: Ozon, Benzol, Schwermetalle und Feinstaub (PM 10 und PM 2,5) liegen schon heute an
vielen Stellen über den Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Die Luftreinhaltung nimmt gemeinsam mit der Lärmreduzierung eine herausragende Stellung für
den umweltbezogenen Gesundheitsschutz ein. Gemeinsamer und dominanter Verursacher in der
Stadt ist der motorisierte Verkehr, daher kommt der Verkehrswende auch für die vorbeugenden
Gesundheitsschutz eine zentrale Rolle zu.
Das Gesamtbild der Mehrfachbelastungen erlaubt die Bestimmung der am besten geeigneten
Maßnahmen für die Anpassung an den Klimawandel und die Reduzierung von umweltbedingten
Gesundheitsrisiken.
Sanierungsbedarf und Entwicklungsziele müssen zusammen betrachtet werden
Berlin investiert in den nächsten 10 Jahren in dauerhafte graue, grüne und blaue
Infrastruktur. Dabei gilt es heute so zu bauen, dass die Investition auch in 2050 und 2070
noch funktioniert. Was das konkret bedeutet, haben wir schon in dem LDK Antrag „Grün statt
Grau- Berlin nachhaltig, sozial und ökologisch entwickeln“ ausgeführt.
Vor diesem Hintergrund ist eine vorsorgliche Perspektive auf die gesundheitlichen Folgen der
wachsenden Stadt und auf immissionsbezogene Leitplanken der Verkehrsentwicklung nicht nur
reaktiv bei Vollzugsdefiziten, sondern auch perspektivisch für die Umweltqualität 2030
geboten.
Was das konkret bedeuten kann, sieht man beispielsweise an der Umgestaltung des Tempelhofer
Damms: der Tempelhofer Damm bekommt nicht nur eine geschützte Radspur, sondern auch
Lieferzonen, mehr Grün, Fußgängerüberwege und ein langfristiges Zielkonzept mit einem
Drittel weniger motorisiertem Verkehr, um die gesundheitlichen Immissionsgrenzwerte
dauerhaft einzuhalten. Zugleich entsteht ein neues Quartier am Rathaus Tempelhof und
wahrscheinlich zusätzlicher Verkehr durch den BER.
Bündnis 90/ Die Grünen Berlin fordert, dass es in Zukunft bei parallelen Projekten eine
Folgenabschätzung auf Basis der Umweltgerechtigkeitsindikatoren gibt. Die Verwaltung der
Bezirke steht angesichts der unübersehbaren Unterhaltungsdefizite unter einem mehrfachen
Legitimations- und Entscheidungsdruck.
Am schnellsten ist die Wiederherstellung der „bekannten Qualität“, die politischen Ziele
orientieren sich aber vor allem an den Entwicklungszielen und verlangen „radikale
Veränderungen“ der Stadt. Hier fehlen Instrumente für die Verknüpfung gesamtstädtischer und
lokaler Ziele für den öffentlichen Raum. Diese Verknüpfung kann durch die
Mehrfachbelastungsanalysen der Umweltgerechtigkeitsstrategie erfolgen.
Die Bezirke bewältigen die Anforderungen mit „engagiertem Opportunismus“. Er führt zu
unübersichtlichen Einzelvorhaben, deren Ziele jeweils mit umfassender prozessbegleitender
Bürgerbeteiligung vermittelt und ausgehandelt werden. Das ist ohne ein fachübergreifendes
Gesamtbild zu Mehrfachbelastungen und eine fachübergreifende Zielvorgabe weder effizient
noch zielgerichtet.
Im Ergebnis fehlen uns in den Bezirken gültige Daten und Indikatoren, die einerseits die
Umweltinformationen aktuell für die Quartiersebene vorhalten, andererseits die Bewertung der
Quartierssituation im Gesamtbild der Stadt einordnen. Diese Lücke schließt die
Umweltgerechtigkeitsstrategie.
Mit einer Umweltgerechtigkeitskarte zu den Mehrfachbelastungen und deren stadträumlicher
Verteilung ergeben sich neue und andere Fragen der Priorisierung von Maßnahmen, der
Verwundbarkeit von Quartieren und der Vorsorge gegenüber umweltbedingten Gesundheitsrisiken.
Das ist der Mehrwert dieser Information.
Umweltgerechtigkeit erleichtert ein vernetztes, vorausschauendes Planen
Die Karten zur Umweltgerechtigkeit ermöglichen den Betroffenen und Fachleuten „auf einen
Blick“ zu erfassen, wo welche Defizite ein gezieltes Eingreifen zum Beispiel der
Straßenplanung, der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, der Stadtplanung oder der Grünplanung
erfordern.
Angesichts der aktuellen Dynamik in der Stadtentwicklung sind darüber hinaus
Trendbewertungen, die frühzeitig auf Verschlechterungen hinweisen, zu entwickeln damit wir
z.B mit dem verkehrsbürtigen Feinstaub nicht in dieselbe reagierende „Feuerwehrpolitik“
geraten, wie beim Stickstoffdioxid.Hier soll der Maßstab für die Stadtentwicklung durch die
WHO Richtwerte gesetzt werden und nicht allein durch gesetzliche Grenzwerte.
Der Dieselskandal mit seinen teuren und kurzfristigen Handlungspflichten für die Kommunen
sollte uns lehren: Wir brauchen eine Planungsgrundlage, die Gesundheitsdaten, soziale Daten,
Baustruktur und Immissionsdaten für die Stadtplanung aufbereiten. Wir brauchen
Folgenabschätzungen bei großen Infrastrukturprojekten, Trendanalysen und Überblick über die
Verteilung von umweltbedingten Erkrankungen.
Umweltgerechtigkeit ist eine gesamtstädtische Steuerungs- und Monitoringaufgabe
Die Daten des Berliner Umweltgerechtigkeitsatlas sind über 10 Jahre alt und nicht mehr
valide. Es besteht aufgrund der wachsenden Stadt mit allen ihren Auswirkungen
Aktualisierungsbedarf, der nur von mehreren Senatsverwaltungen in einer gemeinsamen
Anstrengung zu bewältigen ist.
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen passt aktuell die statistische
Grundlage an die geänderte soziale und demographische Situation der Stadt an. Damit entfällt
für die Umweltdaten die kleinräumige Bezugsgröße und die Grundlage, um lokalen
Handlungsbedarf bei Mehrfachbelastungen zu bestimmen.
Es bietet sich also jetzt die Chance, die Karten zur Mehrfachbelastung methodisch und
inhaltlich auf den heutigen Stand zu bringen. Darüber hinaus sind Prognosen und Zielvorgaben
für 2030 möglich und sinnvoll.
Diese Informationen können nur gesamtstädtisch aufbereitet und vorgehalten werden, auch wenn
kleinräumige Unterschiede und Effekte durch die Bezirke zu bewältigen sind. Daher brauchen
wir einen Stadtentwicklungsplan Umweltgerechtigkeit 2030 und eine gesamtstädtische Steuerung
durch eine der Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und Wohnen, Gesundheit, Pflege und
Gleichberechtigung oder Umwelt, Verkehr und Klimaschutz unter Beteiligung der Bezirke.
Die Entwicklung umweltgerechter und gesünderer Quartiere in Metropolenräumen und die damit
verbundene Verbesserung des Gemeinwohls sind möglich. Dies zeigen internationale Beispiele
wie Amsterdam und Kopenhagen an denen sich Berlin auch bei diesem Thema messen lassen muss.
Unterstützer*innen
- Jelisaweta Kamm (KV Berlin-Mitte)
- Catherina Pieroth-Manelli (KV Berlin-Tempelhof/Schöneberg)
- Theresa Reis (KV Berlin-Mitte)
- Lucas Gerrits (KV Berlin-Mitte)
- Anett Ludwig (KV Berlin-Mitte)
- Alexandra Bendzko (KV Berlin-Mitte)
- Bijan Moini (KV Berlin-Mitte)
- Taylan Kurt (KV Berlin-Mitte)
- Mona Hille (KV Berlin-Mitte)
- Sabine Deitschun (KV Berlin-Kreisfrei)
- Mathias Kissling (KV Berlin-Mitte)
- Rico Schulze (KV Berlin-Mitte)
- Georg P. Kössler (KV Berlin-Neukölln)
- Gustav Kenn (KV Berlin-Mitte)
- Martin Johnki (KV Berlin-Mitte)