Veranstaltung: | LDK am 28. Oktober 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 8 Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Bernd Schwarz (KV Berlin-Reinickendorf) |
Status: | Zurückgezogen |
Eingereicht: | 21.02.2020, 15:57 |
V12: Gutes Aufwachsen von Kindern in allen Regionen Berlins – Sozialraumorientierung stärken
Antragstext
Der Landesverband von Bündnis 90/Die Grünen unterstützt die begonnene Sozialraumorientierung
(SRO) in der Berliner Jugendhilfe und setzt sich für eine Umsetzung hin zu einem echten
Systemwechsel in Richtung einer konsequenten Sozialraumorientierung ein.
Nach ersten Schritten durch das Jugendfördergesetz wollen wir die Sozialraumorientierung im
Familienfördergesetz verankern und in der kommenden Legislatur konsequent in ganz Berlin
umsetzen. Dabei ist es entscheidend und notwendig, das Finanzsystem für die Erziehungshilfen
dahingehend zu verändern und zu entwickeln, dass es die Sozialräumliche Orientierung in
ihrer Fachlichkeit unterstützt.
Wir fordern außerdem:
- Ziel aller politischen Aktivitäten und jeglichen Verwaltungshandelns zur Erreichung
von Bedingungen, die ein gutes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Berlin
sicherstellen, muss es sein, die erforderlichen Unterstützungen so zu gestalten, dass
hierbei ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Eigenverantwortung der
Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Familien möglich ist.
- Das Ziel von Jugendhilfe und Familienarbeit muss es sein, Kindern und Jugendlichen mit
ihren Familien in den unterschiedlichsten Lebenssituationen ein optimales Maß an
selbstbestimmtem und von Sozialsystemen unabhängiges Leben zu ermöglichen.
- In jeder Berliner Region, wo möglich und sinnvoll in lebensweltlich orientierten
Räumen (LOR), sollen abgestimmte Fachkonzepte entwickelt werden, die sich am
Sozialraum orientieren, nicht am Fall. Die konzeptionellen Ansätze sollen sich hierbei
an einer Fachlichkeit orientieren, die eine Sozialraum- und keine Fallsteuerung
anstrebt, so dass die Finanzierung den Bedarfen der Kinder, Jugendlichen und ihren
Familien in ihrem Kiez folgt, nicht der Finanzierung von Fällen.
- Die Jugendämter werden im Rahmen einer konzeptionell an der Systemischen Arbeitsweise
orientierten Organisationsentwicklung zu kleinen, dezentralen Standorten der
Jugendhilfe weiterentwickelt. Der Fokus ist hierbei auf die Kooperation auf Augenhöhe
zwischen den öffentlichen und freien Trägern und Akteur*innen sowie der vorhandenen
Gemeinwesenarbeit und Freiwilligenangeboten vor Ort zu legen, um den Bedarf an
Unterstützung der Familien und ihrer Kinder zu decken.
- Kiez-Teams müssen aufgebaut werden, die aufsuchende Familienhilfe nach Meldungen aus
den unterschiedlichen Bereichen leisten können. Eine enge Zusammenarbeit zwischen den
Frühen Hilfen, also Kitas, Stadtteileltern, Babylots*innen etc., und die Schaffung
einer konkreten Anlaufstelle für diese Expert*innen im Kiez-Team sind für uns ein
zentrales Element.
- Eine strukturierte Qualitätssicherung, die im Fall einer pauschalierten Finanzierung
dafür sorgt, dass neben der Flexibilität auch die Qualität der Angebote und Produkte
sichergestellt ist, ist ebenso notwendig wie fachlich begleitendes
Qualifizierungsprogramm für alle Kooperationspartner*innen.
- Der individuelle Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung nach dem SGB VIII bleibt
dabei weiterhin unberührt.
Begründung
Zwar wurde ab 2003 in Berlin formal das sozialraumorientierte Arbeiten in der Jugendhilfe eingeführt und sind bereits vielfältige vernetzte Aktivitäten vor Ort und in den einzelnen Berliner Regionen bekannt, dennoch haben diese in den Jugendämtern noch nicht zu einer einheitlichen konsequenten Umsetzung der sozialraumorientierten Arbeit in allen Bezirken geführt. Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII, wenn sie denn bestehen, diskutieren in der Regel über spezifische fachliche und vertiefte Aspekte der sozialen Arbeit. Ein vernetztes Denken und Handeln über die Nachhaltigkeit einer spezifizierten Fallarbeit hinaus findet meistens nicht statt und zeigt somit auch kaum Wirkung im Empowerment von durch die Fallarbeit vereinzelten Personen. Ein Abbau von vielfältigen Benachteiligungen in den Bereichen sozialer und kultureller Teilhabe, Bildung, Erwerbsarbeit usw. ist in vielen Regionen damit kaum erkennbar. Das sich nun neben der Jugendhilfe auch die Berliner Regionale Schulaufsicht wie bspw. erfolgreich in Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölnn stärker sozialräumlich orientiert, unterstützen wir ausdrücklich und fordern eine konsequente Umsetzung.
Sozial- und Jugendhilfeplanungssysteme sollen Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, ein von Sozialsystemen unabhängiges Leben zu führen. Der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe ist immer vorrangig einzusetzen, so dass immer erst ein befähigender und nur wenn unabdingbar, ein betreuender Ansatz der sozialen Arbeit zur Anwendung kommt. Dabei sind die Einbeziehung der vorhandenen Gemeinwesenarbeit und der Freiwilligenangebote sowie eine Verknüpfung mit der lokalen Infrastruktur besonders effizient.
Beispiele für erfolgreiche Anwendungen des sozialraumorientieren Arbeitens im Bereich von Kindern und Jugendlichen sind in Hamburg, Rosenheim, Graz und Nord-Friesland zu finden.
In gut gelingenden SRO-Umsetzungen im deutschsprachigen Raum arbeiten freie Träger in ihrer Funktion als Leistungserbringer bspw. mit vorher vereinbarten Personalressourcen (z. B. Vollzeitäquivalenten). Durch die hier gewonnene Planungssicherheit kann:
a) der Sozialraum im Personalbereich verlässlich ausgestattet, vernetzt und geschult (u. a. Aktivierung statt Betreuung, Orientierung am Willen der Kinder und Jugendlichen) werden und
b) die Fachlichkeit der Sozialraumarbeitenden definiert sich nicht allein hochspezialisiert über den (Einzel)Fall.
Die unspezifische und übergreifende Arbeit im Kiez mit den Beteiligten ist hier gleichwertig und kann sich bereits vor und um Erziehungshilfen herum entfalten (einige sprechen eher von Prävention, andere von Gestaltung). Unstrittig ist, dass dadurch Laufzeit und Anzahl von Erziehungshilfen minimiert werden können.
Die Zahl der Familien, die Hilfen zur Erziehung (HzE) in Anspruch nehmen, steigt in Berlin jährlich und kontinuierlich um ca. 2–3 %. Derzeit steuert die Stadt auf eine Summe von ca. 600 Mio. Euro für HzE zu.
Die entscheidende Frage dabei ist, ob es wirklich sinnvoll ist, weiterhin so viel Geld in entstandene „Fälle“ zu investieren. Die zunehmende Finanzierung von Fällen führt dazu, dass die Unterstützung, die Arbeit mit den Familien, mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen immer erst dann beginnt, wenn das Kind bereits in den sprichwörtlichen Brunnen gefallen ist. Die Arbeit der auf systemischen Grundsätzen beruhenden sozialräumlichen Orientierung hingegen stellt den präventiven Charakter in den Vordergrund. Probleme werden im Vorfeld erkannt und Gefahren von Überforderung, drohenden Krisen oder anderen Störungen von außen können frühzeitig identifiziert und damit bearbeitet werden.
In der Praxis bedeutet dies, dass es einer Zusammenarbeit aller im Sozialraum tätigen Menschen, Organisationen, Trägern, der Familie, der Schule, der Kitas, der Eltern, der Kirchen, der Sport- und Freizeiteinrichtungen und der öffentlichen und freien Jugendhilfe bedarf, um die Risiken frühzeitig und möglichst vor dem Eintreten eines Problems zu erkennen. Diese Zusammenarbeit kann nur dann gut gelingen, wenn eine gute Kooperation mit gegenseitigem Respekt und auf Augenhöhe zwischen den Akteur*innen vor Ort besteht.
Es hat in Berlin bereits einige Versuche gegeben, die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien an den Lebensorientierten Regionen bzw. der Sozialraumorientierung auszurichten. Die Versuche konnten nach dem, was wir bisher darüber wissen (es hat keine strukturierte Aufarbeitung des Scheiterns gegeben), nicht erfolgreich umgesetzt werden, weil die Zeit für die regionale Erarbeitung eines SRO Projektes nicht gegeben wurde und die Finanzierung – 1.8 Mio. für ganz Berlin = 150.000 €/Bezirk – deutlich zu gering angesetzt wurde. Hamburg, das mittlerweile erfolgreicher nach den Grundsätzen der Sozialräumlichen Orientierung arbeitet, hat hierfür ca. 19 Mio. € jährlich investiert.
Auch in Graz (von der Bevölkerungszahl entspricht die Stadt in etwa einem unserer 12 Bezirke) wurde an dieser Stelle deutlich umgesteuert. Ein Blick in die dort vorgenommenen Auswertung „10 Jahre Sozialraumorientierung“ gibt hierzu wichtige Hinweise: https://www.graz.at/cms/dokumente/10230048_7751496/04662ef8/10_Jahre_Sozialraumorientierung_-web.pdf
Ein erster kleiner Schritt hin zu einer Pauschalfinanzierung der Jugendhilfe insgesamt konnte − durch Bestrebungen unserer Fraktion im Abgeordnetenhaus − mit dem Flexibudget in dieser Wahlperiode in Berlin bereits eingeleitet werden. Konsequent und notwendig wäre es nun, auch den nächsten Schritt zielstrebig zu gehen und einen kontinuierlichen Systemwandel sicherzustellen. Dies wollen wir im kommenden Familienfördergesetz verankern.
Dafür müssten in Form von Angeboten kleine Standorte der Jugendhilfe in den Regionen in enger Partnerschaft zwischen öffentlichen und freien Trägern auf Augenhöhe aufgebaut werden.
Die Verwaltung kann dann wieder eine unterstützende, die Selbstbestimmung der Familien in den Vordergrund stellende Haltung für die Menschen einnehmen und auf Augenhöhe mit den Trägern arbeiten. Das wäre ein Paradigmenwechsel − von der paternalistischen Fürsorge, die vor allem den Gedanken des Betreuens, des Wissens, was für die Familien gut und richtig ist, und der reinen Kontrolle der Trägerleistungen darstellt, hin zu einer Sicht zur Unterstützung der Selbstbestimmung und des freien Willens der Bürger*innen, des gemeinsamen Findens von Lösungen und des präventiven Empowerments von Kindern und Jugendlichen.
Die Fachlichkeit der Mitarbeiter*innen in den Berliner Jugendämtern bekäme in einer solchen kooperativen Zusammenarbeit wieder einen deutlichen Vorrang vor der reinen Verwaltung und Koordination der betreuenden Hilfen. Eine wichtige Voraussetzung für einen Wandel in der Jugendhilfe ist allerdings eine enge Zusammenarbeit mit einer überzeugten, konsequenten und aktiven Jugendamtsleitung und einer für einen Wandel offenen Trägerlandschaft.
Die systemisch erzwungene „Jagd“ der Träger nach Fällen hätte ein Ende zugunsten einer deutlichen Stärkung der präventiven Angebote und der gemeinsamen Arbeit aller Beteiligten an einem guten Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen. Eine Einbuße an Beauftragungen für die Träger ist durch den Wegfall der Fälle nicht zu erwarten, eher eine Veränderung der Arbeitsinhalte von der betreuten „Fallarbeit“ an Kindern und Jugendlichen hin zu deren Empowerment und Selbsthilfe sowie eine Stärkung der familieninternen lösungsorientierten Kompetenzen unter Zuhilfenahme von stützenden Strukturen.
Die für die Veränderung erforderliche Datenbasis ist hervorragend, die Verknüpfung derselben leider nicht. Jugendhilfeplanung muss Aussagen über die lebensräumlichen Orte treffen können, um zu entscheiden, wie sie Familien erreichen, die zu Fällen zu werden drohen.
Den gesetzlichen Anspruch auf eine Maßnahme zu Hilfen zur Erziehung wird es selbstverständlich weiterhin geben müssen, denn es wird Situationen geben, in denen Hilfen zur Erziehung notwendig und sinnvoll sind. Sie werden dann aber eingebettet in die im Sozialraum existierenden Systeme. Die Erfahrung zeigt aber auch hier, dass in solchen Situationen die Dauer der Maßnahme, im Sinne der Familien deutlich verkürzt werden kann. Es bietet den Kindern, den Jugendlichen und den Familien nach Beendigung der Maßnahme eine Umgebung, die eine gute Unterstützung bei der Bewältigung der dann möglicherweise immer noch bestehenden familiären, schulischen oder sonstigen Herausforderungen ist.
Für einen soliden und nachhaltigen Aufbau von Projekten der Sozialraumorientierten Kinder- und Jugendarbeit ist es unbedingt erforderlich, neben der auskömmlichen Finanzierung einige wichtige inhaltliche Erfolgsparameter zu beachten:
• Eine strukturierte Qualitätssicherung, die im Fall einer pauschalierten Finanzierung dafür sorgt, dass neben der Flexibilität auch die Qualität der Angebote und Produkte sichergestellt ist.
• Da es sich um einen echten Paradigmenwechsel handelt, ist ein fachlich begleitendes Qualifizierungsprogramm für alle Kooperationspartner*innen des Projektes grundlegend für das Gelingen.
• Es braucht zudem viel Geduld und auch ausreichend Zeit (3–5 Jahre), um in den einzelnen Regionen die Regeln der Zusammenarbeit zwischen den teilweise sehr unterschiedlichen Kooperationspartner*innen aufzustellen und Systeme für deren Einhaltung auszuhandeln. Diese Phase zu überspringen, Systeme einfach einzuführen oder anzuordnen, ist wenig sinnvoll, da dann die Corporate Identity mit dem Projekt nicht gewährleistet ist. Nur ein gemeinsames Erarbeiten garantiert ein gemeinsames qualitätsvolles Arbeiten.
Unterstützer*innen
- Wolfgang Schmidt (KV Berlin-Kreisfrei)
- Oliver Gellert (KV Berlin-Spandau)
- Barbara Boeck-Viebig (KV Berlin-Reinickendorf)
- Anna Orth (KV Berlin-Spandau)
- Christa Markl-Vieto Estrada (KV Berlin-Steglitz/Zehlendorf)
- Petra Vandrey (KV Berlin-Charlottenburg/Wilmersdorf)