Veranstaltung: | LDK 2017 |
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Tagesordnungspunkt: | T-9 Weitere Anträge |
Antragsteller*in: | Fatos Topac (LAG Gesundheit und Soziales), Taylan Kurt (KV Mitte) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 13.11.2017, 12:19 |
V-04: Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Berlin bekämpfen – differenzierte Antworten auf ein komplexes Problem
Antragstext
Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Berlin bekämpfen – differenzierte Antworten auf
ein komplexes Problem
Niemand wird auf der Straße geboren, aber jeder Mensch kann auf der Straße
landen.
Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit[1] kann viele von uns treffen. Zunehmend mehr
trifft es Menschen aus der „Mitte“ der Gesellschaft jeglicher Herkunft: Junge
Heranwachsende, Familien, Rentner*innen nach einem langen Arbeitsleben und
Frauen; hinzukommen verschuldete Menschen, Menschen nach Trennung / Scheidung,
Suchtmittelabhängige, Psychisch Kranke, Pflegebedürftige, Menschen mit
Behinderungen und EU-Bürger*innen. Sie verlieren z.B. ihre Wohnung, weil die
Mieten in Berlin durch die Decke gehen oder nicht vom Jobcenter übernommen
werden, weil viele Menschen trotz Arbeit arm sind, sie in der Krise sind und
„abtauchen“ und ihre Post schon länger nicht mehr öffnen, Hilfsangebote nicht
kennen oder sich schämen, diese in Anspruch zu nehmen.
Bis auf wenige Aussteiger*innen ist kaum jemand freiwillig obdachlos. Wir haben
hier einen gesetzlichen und gesellschaftlichen Auftrag, diesen Menschen zu
helfen.
Besonders in den Innenstadtbezirken ist die Situation obdachloser Menschen
unübersehbar. Immer mehr Menschen campieren in Grünanlagen, unter Brücken, in
Hauseingängen oder schlafen neben Geldautomaten in Bankfilialen. Dies ist ein
unhaltbarer Zustand. Ihre Bedarfe und die Problemlagen erweisen sich in
einzelnen Stadtteilen als sehr differenziert. Seit Jahren steigt ihre Anzahl
rapide an und liegt mittlerweile bei geschätzt bis zu 10.000 Obdachlosen. Zu
lange haben Vorgängerregierungen den Mangel verwaltet und sich davor gedrückt,
nachhaltige Lösungen gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu entwickeln.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vertritt eine emanzipative und solidarische Sozialpolitik.
Mit unserem Grundsatzprogramm haben wir uns dazu verpflichtet, dass wir „eine
politische Kultur der Solidarität entwickeln wollen, in der Respekt, Toleranz
und Hilfe sowie das Engagement für die Schwächsten selbstverständlich ist. […]
Vorrangiges Ziel unserer Politik ist es, Armut und soziale Ausgrenzung zu
vermeiden und die soziale Lage der am schlechtesten Gestellten zu verbessern.“
Diese Grundsätze müssen sich nicht nur im politischen Tagesgeschäft bewähren,
sondern gerade dann, wenn sozialpolitisches Handeln und sozialpolitische
Verantwortung durch besondere Umstände und Problemlagen herausgefordert werden.
Wir erwarten Differenzierung in der öffentlichen Debatte und haben den Anspruch
auch als Partei differenzierte Antworten zu geben und Lösungen anzubieten, die
mit unseren Grundüberzeugungen im Einklang stehen. Populistische und
alarmistische Aussagen wie die Forderung nach Abschiebungen von
Unionsbürger*innen sind für uns keine Lösung.
Mit dem kommenden Doppelhaushalt 2018/2019 investieren wir mehr in den Kampf
gegen Obdachlosigkeit als jemals zuvor. Gleichzeitig ist klar, dass der Bedarf
an niedrigschwelligen und zielgruppenspezifischen Angeboten, ob für Ältere,
psychisch Kranke, Drogen- und Alkoholabhängige, Familien oder wohnungs- und
obdachlose Unionsbürger*innen weiter hoch ist. Es braucht daher mehr Tempo bei
der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von
Wohnungs- und Obdachlosigkeit durch die zuständige Senatsverwaltung. So gibt es
nach wie vor weder eine Wohnungs- und Obdachlosenstatistik als Teil einer
integrierten Armuts- und Sozialberichterstattung, noch überarbeitete Leitlinien
der Wohnungslosenpolitik, die die Grundlage für eine gesamtstädtische
ressortübergreifende (z.B. Wohnen, Gesundheit und Pflege, Soziales, Jugend und
Familie, Finanzen) Strategie zur Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in
Berlin sein müssen. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, passgenaue und
bedarfsorientierte Lösungen für die vielfältigen Bedarfe zu entwickeln bzw.
vorhandene Angebote auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Die politischen Ziele,
die in der rot-rot-grünen Koalitionsvereinbarung festgeschrieben wurden, müssen
schnellstmöglich umgesetzt werden.
Der beste Weg Obdachlosigkeit zu bekämpfen ist Wohnungslosigkeit erst gar nicht
entstehen zu lassen. Hilfen für von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen werden
durch unzählige Ämter nebeneinander angeboten. Ermessensspielräume der Jobcenter
bei der Übernahme von Miet- und Energieschulden werden zugunsten der Betroffenen
nicht genutzt. Auch kommen nicht die Hilfen zu den Betroffenen; deshalb brauchen
wir aufsuchende Sozialarbeit.
Daher wollen wir Hilfen „aus einer Hand“ mit ressortübergreifenden personell gut
ausgestatteten Fachstellen in Anlehnung an das „Karlsruher Modell“ in den
Bezirken. Hier sollen alle relevanten Stellen (Sozialämter, Jobcenter,
Jugendämter, Gesundheitsämter, bezirkliche Schuldner*innenberatungen,
geschütztes Marktsegment) koordiniert arbeiten.
Seit Jahren werden Wohnungslose lediglich „verwahrt“. Wir wollen durch
weitergehende Qualitätsstandards, durch Beratung und Begleitung, einem
obligatorischen Clearing, der Bevorzugung gemeinnütziger BetreiberInnen und der
Errichtung von Bewohner*innenbeiräten die Situation in den Unterkünften
verbessern. Ebenso unterstützen wir innovative Konzepte und sehen im Housing-
First-Ansatz ein Modell, mit dem insbesondere obdachlose Frauen besser
unterstützt werden können. Wer auf der Straße lebt und keinen Zugang zu
sanitären Einrichtungen und einer medizinischen Versorgung hat, wird krank und
dessen Lebenserwartung sinkt rapide. Daher brauchen wir ein niedrigschwelliges
Angebot zur gesundheitlichen Versorgung und ein mobiles Hygieneangebot (Duschen
auf Rädern). Für eine nachhaltige Bekämpfung der Wohnungslosigkeit brauchen wir
dringend ausreichend bezahlbaren Wohnraum.
Die aktuelle Situation Obdachloser spiegelt nicht nur die sich verschärfende
Armut in Berlin, sondern unzweifelhaft auch das soziale Gefälle in Europa
wieder. Für eine nachhaltige Armutsbekämpfung brauchen wir eine europäische
Sozialpolitik. Darum brauchen wir eine bessere und europäisch geregelte soziale
Absicherung der Freizügigkeit, um die regionalen Unterschiede in den
Lebensverhältnissen langfristig wirksam zu bekämpfen. Hierfür sind eine stärkere
Koordinierung und europäische Standards im Bereich der sozialen Sicherung und im
Bereich des Arbeitsmarktes unerlässlich. Wir sehen uns als Berliner Grüne in der
Pflicht, diesen Menschen in ihrer Notsituation konkret zu helfen. Dafür wollen
wir die aufsuchende Sozialarbeit weiter stärken. Klar ist aber, dass wir die
Menschen so schnell wie möglich in etablierte, funktionierende Hilfestrukturen
überführen müssen.
Wir müssen in der Lage sein jeweils einzeln für jeden Menschen festzustellen,
welche Ansprüche auf Sozialleistungen bestehen und welche Strukturen genutzt
werden können. Um dies zu leisten wollen wir eine aus Landesmitteln finanzierte
Clearingstelle für Unionsbürger*innen einrichten. Hier sollen Sprach- und
Beratungskompetenzen gebündelt werden.
Die Große Koalition hat Ende vergangenen Jahres den Zugang von
Unionsbürger*innen zu Sozialleistungen drastisch eingeschränkt und sie, wenn sie
noch nicht ausreichend lange in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgegangen
sind, pauschal für die ersten fünf Jahre von Grundsicherungsleistungen und
grundsätzlich auch von Sozialhilfe ausgeschlossen. Unsere grüne
Bundestagsfraktion hat dies scharf kritisiert. Der Bund schleicht sich aus der
Verantwortung und drängt Menschen in Notlagen. Viel sinnvoller wäre es, klar zu
definieren, dass Unionsbürger*innen nach drei Monaten Zugang zu Leistungen aus
dem SGB II und dem SGB III erhalten können, wenn sie eine Verbindung zum
hiesigen Arbeitsmarkt aufgebaut haben und aktiv nach Arbeit suchen – sowohl
finanziell wie auch bei Beratung, Qualifikation und Vermittlung. Dies bedeutet
keine bedingungslose Öffnung der deutschen Sozialsysteme, aber zeigt gangbare
Wege auf, Menschen Unterstützung zu geben und Kommunen mit den Aufgaben nicht
allein zu lassen.
Wir sind uns bewusst, dass dieser Weg in einer Zeit, in der Deutschland und
Europa nach rechts rücken, nicht auf schnellen Applaus hoffen kann. Wir zweifeln
aber keine Sekunde daran, dass dieser Weg der richtige ist. Wir lassen uns nicht
dazu treiben Probleme auf dem Rücken der Schwächsten auszutragen. Wir helfen
Menschen vor Ort mit allen Mitteln, die wir haben. Und wir reißen die
Freizügigkeit in Europa nicht aus Angst vor rechtem Populismus nieder, sondern
richten klare Forderungen an den Bund und kämpfen für ein sozialeres Europa.
[1]Obdachlosigkeit: „Als obdachlos gelten Menschen, die auf der Straße leben, an
öffentlichen Plätzen wohnen, ohne eine Unterkunft, die sich in Verschlägen,
Parks oder unter Brücken etc. aufhalten. Obdachlos sind aber auch Menschen in
Notunterkünften, die keinen festen Wohnsitz haben und in Wärmestuben,
Notschlafstellen oder anderen niedrigschwelligen Einrichtungen übernachten.“
(BAG Wohnungslosenhilfe)
Wohnungslosigkeit: „Als wohnungslos gelten Menschen, die in Einrichtungen
wohnen, in denen die Aufenthaltsdauer begrenzt ist und in denen keine
Dauerwohnplätze zur Verfügung stehen, wie z.B. Übergangswohnheime, Asyle und
Herbergen, aber auch Übergangswohnungen. Auch Frauen und Kinder, die wegen
häuslicher Gewalt ihre Wohnung verlassen haben und kurz- bis mittelfristig in
einer Schutzeinrichtung beherbergt sind, wie z.B. in Frauenhäusern, sind
wohnungslos (...)“ (BAG Wohnungslosenhife)