Veranstaltung: | Digitaler Landesausschuss am 16.12.2020 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 2 Anträge |
Antragsteller*in: | Christiane Heiß (KV Berlin-Tempelhof/Schöneberg) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 20.11.2020, 08:30 |
R5-V-11: Die wachsende Stadt braucht eine Umweltgerechtigkeitsstrategie
Antragstext
Wer an lauten, stinkigen Straßen lebt, wird krank. Doch nicht nur Verkehr erzeugt
Dauerstress. Wer in hoch verdichteten Quartieren lebt, leidet besonders unter warmen
Temperaturen im Sommer.
Das gilt besonders, wenn es nicht ausreichend Grünflächen in der Nachbarschaft gibt.
Umweltbelastungen wie Verkehrslärm, gesundheitsschädliche Luftverschmutzung, unzureichende
Grün- und Freiflächenversorgung und schlechte bioklimatische Bedingungen treffen Menschen
mit geringem Einkommen besonders oft. Armut wohnt an den Ausfallstraßen. Gerade in den
Quartieren, die mit mehreren dieser Stressfaktoren belastet sind, gibt es oft auch
ausgeprägte soziale Problemlagen. Dieses Zusammenspiel von Umweltqualität, sozialer Lage und
Gesundheit wird vom Konzept der Umweltgerechtigkeit erfasst und bewertet.
Gute Umweltverhältnisse und damit Umwelt(un)gerechtigkeit sind sozial und räumlich
unterschiedlich verteilt in Berlin. Hier wollen wir gegensteuern! Berlin 2030 soll überall
in der Stadt gesundheitlich unbedenkliche Umweltverhältnisse aufweisen!
Bündnis 90/ Die Grünen Berlin stehen für Umweltschutz genauso wie für vorbeugenden
Gesundheitsschutz und für Sozialpolitik. Wir können das eine nicht ohne das andere denken.
Gesundheitlich und ökologisch gleichwertige öffentliche Räume prägen in der Stadt die
Chancengleichheit, die Lebensqualität und auch die Teilhabemöglichkeiten. Wichtig ist
hierbei, die Ist-Situation (Berlin heute) für die Betroffenen in den mehrfach belasteten
Quartieren transparent und nachvollziehbar dazustellen und klare Handlungsziele zu
formulieren.
Schon im Koalitionsvertrag 2016 haben wir uns zur Anwendung der
Umweltgerechtigkeitskriterien bekannt und erste Schritte umgesetzt. Nun gilt es, das Konzept
der Umweltgerechtigkeit für die Stadtentwicklungsziele 2030 zu aktualisieren und anzuwenden.
Unser Ziel heißt: Gesunde Lebensbedingungen für alle – unabhängig vom Wohnort und der
sozialen Lage!
Das Konzept zur Umweltgerechtigkeit bewertet die Umweltbedingungen anhand von vier
Kernindikatoren, die alle Einfluss auf die Gesundheit haben: Luft(-verschmutzung), Lärm,
thermische Belastungen (städtische Wärmeinseln) und Grünflächenversorgung. Außerdem wird die
soziale Problemdichte berücksichtigt. Die gesundheitlichen Belastungen durch schlechte
Umweltverhältnisse sind räumlich unterschiedlich verteilt – und können sich lokal
gegenseitig verstärken.
Die Idee der Umweltgerechtigkeit ist es, diese unterschiedlichen Belastungen
zusammenzudenken und auch räumlich zu betrachten. Dazu werden Belastungskarten erstellt, die
auf Quartiersebene alle gesundheitlichen Belastungen zeigen. Berlin ist mit diesen
Mehrfachbelastungskarten Vorreiter in Deutschland. Die Karten zeigen, dass und auch wo
sozial Schwächere dreifach, vierfach oder fünffach belastet sind und diese umweltbedingten
Stressfaktoren sich negativ auf die Gesundheit und Lebenserwartung auswirken. Wir wollen die
bestehende Ungerechtigkeit beenden und für die Zukunft Verschlechterungen vermeiden.
In Berlin wird viel neu gebaut. Gerade bei parallelen Projekten wollen wir, dass das Konzept
der Umweltgerechtigkeit zur Planungsprämisse wird, um Überlastungen der Umwelt,
Unterversorgung mit Grünflächen und daraus folgende gesundheitsgefährdende Ungerechtigkeiten
zu vermeiden. Daher brauchen wir einen Stadtentwicklungsplan Umweltgerechtigkeit und eine
gemeinsame gesamtstädtische Steuerung durch die Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung, für
Gesundheit und Umwelt, Verkehr und Klimaschutz unter Beteiligung der Bezirke.
Die Anpassung an den Klimawandel erfordert die Umgestaltung des öffentlichen Raumes
Berlin erneuert seine öffentliche Infrastruktur. Die „wachsende Stadt“ hat zur Folge, dass
die verschiedenen Politikfelder jeweils eigene Zielvorgaben formulieren, die sämtlich ihre
Bedeutung im Titel tragen: Der Masterplan Wohnungsbau, die Schulbauoffensive, die
Verkehrswende, sind nur die prominentesten Beispiele. Sie alle formulieren fachpolitische
Ziele, die direkt oder indirekt den öffentlichen Raum verändern und ihn beanspruchen. Dabei
ist allen klar: Öffentliche Flächen gehören zwar der Allgemeinheit, können aber gerade
deshalb nur begrenzt die Folgen von Klimawandel und wachsender Stadt kompensieren. Die
Umweltressourcen Boden/Fläche, Wasser, Luft, nächtliche Ruhe, Bioklima und Biodiversität
sind begrenzt und vielerorts überlastet. Die Verteilungskonflikte um Straßenflächen kennen
und sehen wir „an jeder Ecke“. Die Ökosystemdienstleistungen des öffentlichen Raumes im
Zeichen des Klimawandels erfordern eine gezielte Entwicklung und einen integrierten
Schutzansatz von den Belastungsgrenzen her, der über Naturschutzflächen weit hinausreicht
und nicht zuletzt dem Gesundheitsschutz und der Lebensqualität aller Menschen in der Stadt
dient.
Unser Handlungsansatz ist: die lokalen Belastungsgrenzen (local boundaries) aus dem
Umweltgerechtigkeitskonzept zeigen vordringlichen Handlungsbedarf für den öffentlichen Raum.
Angesichts der vielen öffentlichen Bauvorhaben gilt es jetzt, den gesamten lokalen
Handlungsbedarf inklusive der gesundheitlichen und ökosystemaren Aspekte in den Blick zu
nehmen, Zielkonflikte zu erkennen und vordringliche Maßnahmen im öffentlichen Raum in der
Arbeitsplanung voran zu stellen.
Diese Aufgabe ist komplex, aber die Daten liegen bereits an verschiedenen Stellen vor und
die Umweltgerechtigkeitsstrategie bietet ein Bewertungs- und Zielkonzept an, auf das wir
aufbauen können und müssen.
Denn: Berlin baut nicht mehr punktuell, sondern in vielen parallelen Projekten, zu deren
Kombinationswirkungen keine aktuellen Daten verfügbar sind. Daher ist es an der Zeit, die
lokalen Belastungsgrenzen zu erfassen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Besonders empfindliche Gruppen bestimmen unsere Schutzansprüche
Die Erfahrungen mit der Pandemie durch das Covid-19 Virus lehren uns, den öffentlichen Raum
als Ressource für die Gesundheit und Lebensqualität neu zu bewerten und besser zu pflegen.
Nun kommt es darauf an, die Resilienz der Stadtgesellschaft gegenüber dem Klimawandel ebenso
ernsthaft zu verbessern, wie wir die Eindämmung des Virus verfolgen. Hierbei sind die
älteren Berliner*innen doppelt betroffen.
Das Robert Koch Institut ermittelte, dass die lange Hitzeperiode im Sommer 2018 in Berlin
490 zusätzliche Sterbefälle verursachte. Hochbetagte Menschen waren fünfmal so stark
betroffen wie Menschen unter 75 Jahre, dicht bebaute und hoch versiegelte Quartiere weisen
ebenfalls klar erhöhte gesundheitliche Risiken bei Hitzestress auf. Die gesundheitlichen
Risiken des Klimawandels treffen die Menschen in dieser Stadt unterschiedlich, wegen ihres
baulichen Wohnumfelds und der Gestaltung des öffentlichen Raumes, aber auch wegen ihrer
subjektiven Empfindlichkeit.
Umweltdaten und Sozialdaten gehören zusammen, um die Resilienz gegen Krisen zu erhöhen.
Mit lokalen Leitplanken (local boundaries) zur emissionsfreien Innenstadt
Die Luftreinhaltung nimmt gemeinsam mit der Lärmreduzierung eine herausragende Stellung für
den umweltbezogenen Gesundheitsschutz ein. Dominanter Verursacher in der Stadt ist der
motorisierte Verkehr, daher kommt der Verkehrswende auch für die vorbeugenden
Gesundheitsschutz eine zentrale Rolle zu.
Das Ziel von Bündnis 90/ die Grünen ist eine emissionsfreie Innenstadt bis 2030. Die
Verkehrsreduzierung kann mit dem Umweltgerechtigkeitsansatz nach objektiven Kriterien
gesteuert und umgesetzt werden. Die Zivilgesellschaft erhält mit den
Umweltgerechtigkeitsdaten Unterstützung für die Umverteilung öffentlicher Flächen.
Grenzwertüberschreitungen werden derzeit für Stickstoffdioxid mit erheblichem Aufwand
reduziert.
Aber neben Stickstoffdioxid sind weitere gesundheitsrelevante Schadstoffe in den Blick zu
nehmen: Ozon, Benzol, Schwermetalle und Feinstaub (PM 10 und PM 2,5) liegen schon heute an
vielen Stellen über den Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Gleiches gilt für
die Lärmbelastung durch den Straßen- und Schienenverkehr.
Das Gesamtbild der Mehrfachbelastungen erlaubt die Bestimmung der am besten geeigneten
Maßnahmen für die Anpassung an den Klimawandel und die Reduzierung von umweltbedingten
Gesundheitsrisiken.
Sanierungsbedarf und Entwicklungsziele müssen zusammen betrachtet werden
Berlin investiert in den nächsten 10 Jahren in dauerhafte graue, grüne und blaue
Infrastruktur. Dabei gilt es heute so zu bauen, dass die Investition auch in 2030 und 205
0 noch funktioniert. Was das konkret bedeutet, haben wir schon in dem LDK Antrag „Grün statt
Grau- Berlin nachhaltig, sozial und ökologisch entwickeln“ ausgeführt.
Vor diesem Hintergrund ist eine vorsorgliche Perspektive auf die gesundheitlichen Folgen der
wachsenden Stadt und auf immissionsbezogene Leitplanken der Verkehrsentwicklung nicht nur
reaktiv bei Vollzugsdefiziten, sondern auch perspektivisch für die Umweltqualität 2030
geboten.
Was das konkret bedeuten kann, sieht man beispielsweise an der Umgestaltung des Tempelhofer
Damms: der Tempelhofer Damm bekommt nicht nur eine geschützte Radspur, sondern auch ein
Zielkonzept mit einem Drittel weniger motorisiertem Verkehr, um die gesundheitlichen
Richtwerte der WHO ( Weltgesundheitsorganisation) dauerhaft einzuhalten. Das gilt auch und
im Besonderen für die Neue Mitte Tempelhof und den Verkehr durch den BER.
Bündnis 90/ Die Grünen Berlin fordert, dass es in Zukunft bei parallelen Projekten eine
Folgenabschätzung auf Basis der Umweltgerechtigkeitsindikatoren gibt. Ziel muss eine
Stadtentwicklung sein, die mindestens ein Verschlechterungsverbot der lokalen
Umweltressourcen einhält.
Lokale Umweltqualität und gesamtstädtische Resilienz gemeinsam steuern
Die Verwaltung der Bezirke steht angesichts der unübersehbaren Unterhaltungsdefizite unter
einem mehrfachen Legitimations- und Entscheidungsdruck. Am schnellsten ist die
Wiederherstellung der „bekannten Qualität“, die politischen Ziele orientieren sich aber vor
allem an den Entwicklungszielen und verlangen „radikale Veränderungen“ der Stadt. Hier
fehlen Instrumente für die Verknüpfung gesamtstädtischer und lokaler Ziele für den
öffentlichen Raum. Diese Verknüpfung kann durch die Mehrfachbelastungsanalysen der
Umweltgerechtigkeitsstrategie erfolgen.
Die Bezirke bewältigen die Anforderungen mit „engagiertem Opportunismus“. Er führt zu
unübersichtlichen Einzelvorhaben, deren Ziele jeweils mit umfassender prozessbegleitender
Bürgerbeteiligung vermittelt und ausgehandelt werden. Im Ergebnis fehlen uns in den Bezirken
gültige Daten und Indikatoren, die einerseits die Umweltinformationen aktuell für die
Quartiersebene vorhalten, andererseits die Bewertung der Quartierssituation im Gesamtbild
der Stadt und im Rahmen der gesundheitlichen Grenz- und Richtwerte einordnen.
Umweltgerechtigkeit erleichtert vorausschauendes Handeln
Die Karten zur Umweltgerechtigkeit ermöglichen den Betroffenen und Fachleuten „auf einen
Blick“ zu erfassen, wo welche Defizite ein gezieltes Eingreifen zum Beispiel bei der
Umverteilung von Verkehrsflächen, der Stadtplanung oder der Grünplanung erfordern.
Angesichts der aktuellen Dynamik in der Stadtentwicklung sind Trendbewertungen, die
frühzeitig auf Verschlechterungen hinweisen, zu entwickeln damit wir z.B. mit dem
verkehrsbürtigen Feinstaub nicht in dieselbe reagierende „Feuerwehrpolitik“ geraten, wie
beim Stickstoffdioxid.
Hier soll der Maßstab für die Stadtentwicklung durch die WHO Richtwerte gesetzt werden und
nicht allein durch gesetzliche Grenzwerte.
Der Dieselskandal mit seinen teuren und kurzfristigen Handlungspflichten für die Kommunen
sollte uns lehren: Wir brauchen eine Planungsgrundlage, die Gesundheitsdaten, soziale Daten,
Baustruktur und Immissionsdaten für die Stadtplanung aufbereiten. Wir brauchen
Folgenabschätzungen bei großen Infrastrukturprojekten, Trendanalysen und Überblick über die
Verteilung von umweltbedingten Erkrankungen.
Umweltgerechtigkeit ist eine gesamtstädtische Steuerungs- und Monitoringaufgabe
Die Daten des Berliner Umweltgerechtigkeitsatlas sind über 10 Jahre alt und nicht mehr
aussagekräftig. Es besteht aufgrund der wachsenden Stadt mit allen ihren Auswirkungen
Aktualisierungsbedarf, der nur von mehreren Senatsverwaltungen in einer gemeinsamen
Anstrengung zu bewältigen ist.
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen passt aktuell die statistische
Grundlage an die geänderte soziale und demographische Situation der Stadt an. Damit entfällt
für die Umweltdaten die kleinräumige Bezugsgröße und die Grundlage, um lokalen
Handlungsbedarf bei Mehrfachbelastungen zu bestimmen.
Es bietet sich also jetzt die Chance, die Karten zur Mehrfachbelastung methodisch und
inhaltlich auf den heutigen Stand zu bringen. Darüber hinaus sind Prognosen und Zielvorgaben
für 2030 möglich und sinnvoll.
Diese Informationen können nur gesamtstädtisch aufbereitet und vorgehalten werden, auch wenn
kleinräumige Unterschiede und Effekte durch die Bezirke zu bewältigen sind. Daher brauchen
wir einen Stadtentwicklungsplan Umweltgerechtigkeit 2030 und eine gesamtstädtische Steuerung
durch eine der Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und Wohnen, Gesundheit, Pflege und
Gleichberechtigung oder Umwelt, Verkehr und Klimaschutz unter Beteiligung der Bezirke.
Die Entwicklung umweltgerechter und gesünderer Quartiere in Metropolenräumen und die damit
verbundene Verbesserung des Gemeinwohls sind möglich. Dies zeigen internationale Beispiele
wie Amsterdam und Kopenhagen an denen sich Berlin auch bei diesem Thema messen lassen muss.