a) Schulbereich
Wir sind uns mit den Initiator*innen des Ursprungsantrags V-2 darin einig, dass das Berliner Neutralitätsgesetz in Umsetzung des BAG-Urteils vom 27. August 2020 zwingend für den Schulbereich zu ändern ist.
Es darf somit bei religiös konnotierten Kleidungsstücken und Symbolen nicht pauschal und abstrakt eine Störung des Schulfriedens angenommen werden, sondern nur im konkreten (zu begründenden) Einzelfall.
Hingegen ist die von der AH-Fraktion in ihrem Änderungsantrag vom 12.09.2023 (Drs. 19/1164) verlangte vollständige Streichung des § 2 des Neutralitätsgesetzes zur Erreichung einer Verfassungskonformität nicht erforderlich. Vielmehr würde sie suggerieren, dass eine konkrete Störung des Schulfriedens durch religiöse oder weltanschauliche Symbole gar nicht vorkommen könnte.
Schon seit längerem ist aber Realität, dass der soziale Anpassungsdruck durch streng religiöse muslimische Schüler*innen auf liberale oder säkulare Mitschüler*- innen zu einer Beachtung religiöser Verhaltensregeln in puncto Bekleidung, halal-Essen, Fasten im Ramadan u.a. in manchen Schulklassen mit einem großen Anteil muslimischer und alevitischer Schüler*innen hoch ist. Dabei wird in erster Linie Druck auf andere Schüler*innen aus muslimischen und alevitischen Elternhäusern ausge- übt. Durch Lehrkräfte als Autoritäten mit entsprechenden religiösen Symbolen würde dieser Anpassungsdruck deutlich erhöht, selbst wenn er nur nonverbal vermittelt würde (BVerfG vom 27.01.2015, Rn. 68: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/01/rs20150127_1bvr047110.html )
Auch wenn es dem Anschein nach ausschließlich um ein „Kopftuchverbot“ geht, darf nicht übersehen werden, dass bei einer Streichung des § 2 des Neutralitätsgesetzes jede andere Glaubensrichtung berechtigt wäre, während des Schulunterrichts ihre religiösen Symbole demonstrativ zur Schau zu stellen. Somit könnten sich Vertreter*- innen anderer Religionsgemeinschaften, insbesondere evangelikal orientierte Lehr- kräfte – sicherlich in religiös/weltanschaulich anders zusammengesetzten Schulklas- sen, aber auch in Schulklassen mit einem hohen Anteil muslimischer Schüler*innen – ermuntert fühlen ihre eigene subtile Missionierung betreiben. Dafür, das Kreuz demonstrativ im Schulunterricht zu tragen, plädierte 2020 der damalige CDU-MdB Volker Kauder.
Der Schulfrieden ist ein anerkanntes Schutzgut für Verwaltung und Rechtsprechung (BVerfG vom 27.01.2015 u.a.). Er lässt sich definieren als ein Zustand der Konflikt- freiheit und -bewältigung, der den ordnungsgemäßen Unterrichtsablauf ermöglicht, damit der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag verwirklicht werden kann (Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - vom 30.11.2011, Rn. 42). Seine ausdrück- liche Aufnahme in den Gesetzestext hat auch praktische Bedeutung für die Sanktio- nierung etwaiger Verstöße, seien sie religiöser (Verbot eines Gebets-raums in einer Weddinger Schule: BVerwG vom 30.11.2011) oder anderer Art (Versetzung einer Schulleiterin wegen ihres Führungsstils: Oberverwaltungsgericht NRW vom 28.04. 2022).
b) Polizei, Justiz, Strafvollzug
Unabhängig von den o.g. Änderungen für den Schulbereich sind Änderungen für Polizei, Justiz. Strafvollzug nicht aufgrund von Rechtsprechung geboten; im Gegen- teil, mit seiner Entscheidung vom 14.01.2020 - 2 BvR 1333/17 - hat das BVerfG Bund und Ländern freigestellt, ob sie Rechtsreferendarinnen das Tragen religiöser Kleidungsstücke erlauben. Ebenso hat sich in diesen Tagen der EuGH zu religiösen/weltanschaulichen Symbolen im Öffentlichen Dienst geäußert. Es sind rein politische Angelegenheiten.
Die Berliner*innen sind in noch viel stärkerer Weise als bei der Schulpflicht in den Bereichen von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Strafvollzug staatlichem Einfluss oder gar Zwangsmaßnahmen unterworfen. Daher ist hier jeder Anschein von Voreingenommenheit religiöser oder weltanschaulicher Art zu vermeiden.
Angesichts der religiösen Heterogenität in Berlin, wobei die Religionsfreien die Mehrheit der Berliner Bevölkerung stellen, dürfte es dem gesellschaftlichen Frieden abträglich sein von einer Polizistin mit Hijab bei einer Demonstration kontrolliert, von einem Staatsanwalt mit Kreuz um den Hals bzw. einem Richter mit Kippa verurteilt oder einer Justzivollzugsbeamtin mit Kreuz bewacht zu werden.
In diesem Zusammenhang sollte auch die im August 2020 eingeführte Regelung für Rechtsreferendar*innen im Sinne der Neutralität der Gerichte und Staatsanwalt- schaften, nicht zuletzt aber auch wegen der unnötigen Arbeitsbelastung aufgrund der ständigen Begleitung durch Richter*innen oder Staatsanwält*innen als Ausbilder*- innen beendet werden.
Im Übrigen stünde die vollständige Aufhebung des Neutralitätsgesetzes diametral im Gegensatz zu dem unverändert fortgeschriebenen Wahlprogramm der Grünen von 2021: "Außerdem achten wir die Urteile des Bundesverfassungsgerichts und werden das Berliner Neutralitätsgesetz hinsichtlich Lehrkräften anpassen.“
Folgerichtig hat sich unsere Spitzenkandidatin kurz vor Wiederholungswahl vom
12.02.2023 entsprechend geäußert: "Die Grünen-Spitzenkandidatin für die Wahl zum Abgeordnetenhaus und Berliner Umweltsenatorin Bettina Jarasch tritt auch künftig für ein Kopftuchverbot in weiten Teilen des öffentlichen Diensts ein. 'Wir wollen die rechtskonforme Änderung, nicht die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes', erklärte der Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen Michael Schroeren auf Anfrage." (Tages- spiegel 05.02.2023).
Der unerwartete Wechsel der Grünen in die Opposition sollte nicht dazu führen, alles über Bord zu werfen, was Grüne gestern gesagt haben.