Veranstaltung: | LDK am 9. Dezember 2023 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 10 Weitere Anträge |
Antragsteller*in: | LAG Demokratie und Recht (dort beschlossen am: 30.10.2023) |
Status: | Zurückgezogen |
Eingereicht: | 02.11.2023, 20:17 |
V-2: Religiöse Vielfalt im Staatsdienst zulassen – Neutralitätsgesetz abschaffen
Titel
Antragstext
Bündnis 90/Die Grünen Berlin setzt sich für die vollständige Aufhebung des sog. Berliner
Neutralitätsgesetzes[1] ein. Schon seit Jahren ist offenkundig, dass das in der geltenden
Fassung des Gesetzes vorgesehene pauschale Verbot des Tragens religiöser oder
weltanschaulicher Symbole durch staatliche Beschäftigte in dieser Form verfassungswidrig
ist.
Bündnis 90/Die Grünen Berlin begrüßt, dass die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und
Familie dieser Rechtsprechung nunmehr praktisch Rechnung zu tragen scheint. Dass die
Senatsverwaltung in einem Rundschreiben vom März dieses Jahres zum Ausdruck gebracht hat,
dass Lehrerinnen mit Kopftuch an den Grund- und Oberschulen eingestellt werden dürfen, ist
ein wichtiger Schritt. Viel zu lange wurde potentiellen Lehrkräften und pädagogischen
Beschäftigten in diskriminierender Weise der Zugang zum Schuldienst verwehrt. Wir erwarten,
dass die Arbeit der Senatsverwaltung den Anforderungen der Rechtsprechung künftig
vollumfänglich Rechnung trägt. Der Text des Neutralitätsgesetzes erweckt allerdings
weiterhin den unzutreffenden Eindruck, im Schuldienst seien sichtbare religiöse Symbole
pauschal verboten. Dieser Mangel muss schnellstmöglich korrigiert werden, um Rechtsklarheit
für die Menschen in Berlin zu schaffen und das geltende Recht den verfassungsrechtlichen
Vorgaben anzupassen.
Auch im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei hat das
Neutralitätsgesetz ausgedient. Das Verbot ist diskriminierend, antiquiert und überholt. Es
gibt keine überzeugenden, durchtragenden Gründe, die ein solches Verbot in unserer
liberalen, offenen und pluralistischen Demokratie begründen könnten. Es ist nicht
ersichtlich, warum es in Berlin nicht zum Beispiel einen Polizisten mit Kippa, eine
Staatsanwältin mit Kopftuch oder einen Vollzugsbeamten mit Turban geben darf.
[1] Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin vom 27. Januar 2005.
Begründung
Bereits im Jahr 2015 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Beschluss vom 27. Januar 2015, Az. 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10). In der Folge verurteilten die Arbeitsgerichte das Land Berlin immer wieder zu Entschädigungszahlungen an abgelehnte Bewerber*innen (insbesondere Bewerberinnen mit Kopftuch). Dennoch hielt das Land weiter am Gesetz fest und erhob eine offenkundig aussichtslose Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Nachdem das Bundesverfassungsgericht diese Anfang des Jahres nicht zur Entscheidung annahm (Beschluss vom 17.01.2023, Az. 1 BvR 1661/21), hat die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie nunmehr offenbar endlich akzeptiert, dass das pauschale Verbot nicht haltbar ist und einen entsprechenden Runderlass versendet. Der Wortlaut des Neutralitätsgesetz bleibt aber bislang unverändert und erweckt weiterhin den nunmehr unzutreffenden Eindruck eines pauschalen Verbots des Tragens religiöser Symbole durch Lehrkräfte und pädagogische Kräfte in der Schule.
Hinsichtlich des Bereichs der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei ist die Verfassungswidrigkeit des Neutralitätsgesetzes nicht derartig offenkundig. Klar ist aber, dass es keine verfassungsrechtliche Pflicht gibt, das Tragen religiöser Symbole durch Staatsbedienstete in diesem Bereich zu untersagen. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst für sich genommen nicht geeignet ist, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter*innen zu begründen (Beschluss vom 14. Januar 2020, Az. 2 BvR 1333/17). Als mögliche Rechtfertigungen für ein pauschales Verbot in diesem Bereich werden der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, die Funktionsfähigkeit des betroffenen Bereichs sowie die negative Religionsfreiheit der Bürger*innen genannt. Keiner dieser Gründe kann überzeugen: Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege oder der Sicherheitsbehörden könnte nur dann beeinträchtigt werden, wenn die Bevölkerung wegen des Tragens religiöser Symbole das Vertrauen in die betreffenden Institutionen verlöre. Davon ist in der Berliner Bevölkerung indes nicht auszugehen. Auch andere liberale Demokratien wie etwa Kanada zeigen, dass Justiz und Polizei auch funktionieren, wenn es in ihren Reihen Menschen gibt, die offen religiöse Symbole tragen. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates ist durch religiöse Symbole einzelner Staatsbediensteter nicht gefährdet. Diese stellen in ihrer Gesamtheit idealerweise vielmehr ein Spiegelbild der Gesellschaft dar. Die negative Religionsfreiheit der Bürger*innen schließlich gibt keinen Anspruch darauf, von religiösen Bekundungen anderer Menschen unbehelligt zu bleiben. In einer offenen, pluralistischen Gesellschaft müssen die Rechte und Bedürfnisse aller Menschen in einen Ausgleich gebracht werden. Das praktische Berufsverbot des Neutralitätsgesetzes leistet diesen Ausgleich nicht.
Hinzu kommt, dass das Neutralitätsgesetz zwar formell nicht zwischen Religionen unterscheidet, faktisch aber nur bestimmte Religionen bzw. Gruppen innerhalb dieser Religionen betrifft. Denn nur in manchen Religionen wird das Tragen religiöser Symbole als Glaubenspflicht verstanden. In der Praxis trifft das Neutralitätsgesetz in erster Linie muslimische Frauen und hat insofern eine manifeste diskriminierende Wirkung. Auch und insbesondere aus diesem Grund gehört es dringend abgeschafft.
Zur weiteren Begründung verweisen wir auf den Beschluss der Frauen*konferenz vom 25. September 2020 „Selbstbestimmung und gelebte Vielfalt – Für ein Ende der Diskriminierung kopftuchtragender Frauen im Berlin Öffentlichen Dienst und damit für die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes“ (https://gruene.berlin/beschluesse/selbstbestimmung-und-gelebte-vielfalt-fuer-ein-ende-der-diskriminierung-kopftuchtragender-frauen-im-berlin-oeffentlichen-dienst-und-damit-fuer-die-abschaffung-des-neutralitaetsgesetzes_10).