Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat nicht gefordert, dass das Berliner Neutralitätsgesetz abgeschafft werden soll. Auch das in diesem Jahr ergangene Urteil des Bundesarbeitsgerichts verlangt keine Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes und bezieht sich ausschließlich auf den Schulbereich und nicht die auf die anderen im Neutralitätsgesetz genannten Bereiche der öffentlichen Verwaltung. Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil ausgeführt, dass das Neutralitätsgesetz verfassungskonform auszulegen sei. Das bedeutet, dass eben keine Verfassungswidrigkeit behauptet worden ist. Das Bundesarbeitsgericht hätte auch keine entsprechende Feststellung treffen können, denn eine solche Entscheidung käme nur dem Bundesverfassungsgericht zu, das hierüber jedoch nicht geurteilt hat. Vonseiten der Senatsbildungsverwaltung ist es geplant, beim Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde einzulegen, da das Bundesarbeitsgericht in seiner Urteilsfindung die Rechte der Kinder auf den Schutz vor religiöser Einflussnahme nicht berücksichtigt habe.
Der Vorschlag, das Neutralitätsgesetz vollkommen abzuschaffen, muss innerparteilich umfassend politisch hinsichtlich der damit verbundenen Konsequenzen erörtert werden. Sowohl in der Berliner Bevölkerung als auch innerhalb der Berliner Grünen sehen wir diese Forderung als nicht mehrheitsfähig und auch nicht als richtig an.
Mit einem Wegfall des Neutralitätsgesetzes würde der Staat nicht nur im schulischen Bereich, sondern auch in weiteren Feldern wie der Justiz, den Schüler:innen und Bürger:innen nicht mehr religiös und weltanschaulich neutral gegenübertreten. Neben dem Tragen eines Kopftuchs würde es damit ebenfalls legitim sein, auch andere religiöse Symbole, wie auch beispielsweise Kreuze zu tragen. Hierdurch werden religiös-weltanschauliche Fragen zentral an Schüler:innen und Bürger:innen herangetragen und beeinträchtigen diese in der Ausübung ihrer eigenen Religionsfreiheit und Gewissensentscheidungen sowie auch in ihrer ebenso vorhandenen negativen Religionsfreiheit. Hervorzuheben ist dabei auch das besondere Abhängigkeitsverhältnis von Schüler:innen gegenüber ihren Lehrer:innen. Aus unserer Sicht sollten Schüler:innen nicht dazu gezwungen sein, sich mit der religiös-weltanschaulichen Position der Lehrenden auseinanderzusetzen. Das staatliche Neutralitätsgebot in Bezug auf religiöse und weltanschauliche Fragen ermöglicht erst Pluralität und die freie religiös-weltanschauliche Entfaltung der Schüler:innen und Bürger:innen.
Es geht also beim Neutralitätsgesetz nicht nur um „das Kopftuch“; tatsächlich und in der Wirkung würde der Verzicht auf das Neutralitätsgesetz zu „mehr Religion“ in den Schulen, der öffentlichen Verwaltung sowie der Justiz führen. Die Grünen sollten sich in ihrem Wahlprogramm nicht darauf festlegen, das Neutralitätsgesetz zu streichen. Es sollte vielmehr innerparteilich diskutiert werden, wie eine Anpassung des Neutralitätsgesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und weitere Rechtsprechungen sinnvoll erfolgen kann, um eine diskriminierende Praxis zu verhindern ohne dabei den generellen Anspruch der staatlichen Neutralität aufzugeben.