Der im Berliner Neutralitätsgesetz verlangte Verzicht auf religiöse- und weltanschauliche Bekleidung und Symbole im Dienst ist die Konsequenz aus der staatlichen Verpflichtung zur Neutralität in Religions- und Weltanschauungsangelegenheiten.
Auch eine lediglich auf die Dienstzeit beschränkte Pflicht zur religiösen Zurückhaltung greift in die Religionsfreiheit der Beschäftigten ein. Dieser Beschränkung steht aber das Recht der anderen gegenüber, von ungebetener religiöser Einwirkung verschont zu werden. Bei der Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen ist zu beachten, dass der Grundsatz der staatlichen Neutralität die Schutzwürdigkeit der Religionsfreiheit für die betroffenen Beschäftigten während der Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit herabstuft.
Die „negative" Religionsfreiheit der anderen hat den gleichen Stellenwert wie die "positive" Religionsfreiheit und muss im Konfliktfall mit ihr abgewogen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass religiöse Bekenntnisse des Lehrpersonals gerade Kinder zur Anpassung an das Vorbild drängen, entweder aus Sorge vor Nachteilen oder durch Aussicht auf bestimmte Vorteile wie bessere Schulnoten und freundlichere Behandlung. Auch in vielen anderen öffentlichen Bereichen - wie vor Gericht oder bei der Polizei - können sich die Betroffenen dem als übergriffig empfundenen religiösen Druck nicht entziehen. Dieser wurde bereits für Kruzifixe an der Wand von Gerichtssälen vom Bundesverfassungsgericht missbilligt. Ursache dieser Entscheidung war das Begehren eines jüdischen Mitbürgers, nicht vor Gericht unter einem Kruzifix verhandeln zu müssen.
Die Vermeidung eines - auch empfundenen - religiösen Drucks gilt erst recht für die Bekleidung von Richter*innen oder Lehrer*innen. Im säkularen Staat muss sich Religion nicht unsichtbar machen. Sie darf aber andere, insbesondere in Ausübung staatlicher Tätigkeiten, nicht unter Druck setzen.
Die Forderung nach einer Aufhebung des Neutralitätsgesetzes kann sich nicht auf die höchstrichterliche Rechtsprechung stützen. Diese hat lediglich jeweils im Einzelfall und nur hinsichtlich des Schuldienstes entschieden. Die Gerichte haben das Berliner Neutralitätsgesetz in keinem Fall angetastet. Weder die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts in den Jahren 2003 und 2015 noch das Bundesarbeitsgericht 2020 haben die - im politischen Raum bisweilen unterstellte - Verfassungswidrigkeit des Neutralitätsgesetzes auch nur angedeutet.
Für die Suche nach einem politischen Konsens ist es in jedem Fall erforderlich, dass die Berliner Schulverwaltung endlich verbindlich die Folgen einer Aufhebung der Neutralitätsverpflichtung aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen darlegt. In den jeweiligen Einstellungsverfahren wäre nur so zu belegen, an welchen Schulen und in welcher Intensität religiöser Druck bis hin zum Mobbing ausgeübt wird. Die Verwaltung muss beispielsweise transparent und "gerichtsfest" darüber aufklären, an welchen Bildungseinrichtungen die konkrete Gefahr besteht, dass gerade Mädchen, die sich bestimmten religiösen Riten und Bekleidungsvorschriften nicht unterwerfen, durch das Vorbild des Lehrpersonals noch weiter unter Druck gesetzt werden.
Angesichts weiterhin offener Sach- und Rechtsfragen ist die Klärung der Neutralitätsfrage politisch von großer Bedeutung für Berlin. Die Stadtgesellschaft und auch die Senatsparteien haben ihre Diskussionsprozesse noch längst nicht abgeschlossen. Eine unbeschränkte Zulassung religiöser Bekleidung im öffentlichen Dienst durch eine Aufhebung des Berliner Neutralitätsgesetzes würde diese Diskussionsprozesse in autoritärer Weise abbrechen und Unfrieden in unser Stadt stiften.
Kapitel: | Zukunft schaffen – Innovationen und Chancen |
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Antragsteller*in: | LAG Säkulare Grüne Berlin (dort beschlossen am: 03.02.2021) |
Status: | Geprüft |
Verfahrensvorschlag: | Erledigt durch: K-4-2416-2 |
Eingereicht: | 24.02.2021, 11:35 |