Veranstaltung: | Landesausschuss 29. Mai 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 5 Weitere Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesausschuss |
Beschlossen am: | 29.05.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Hühner, zur Sonne, zur Freiheit – Qualzuchten auch in der Landwirtschaft beenden
Beschlusstext
Tierschutz ist seit 2002 als Staatsziel im Grundgesetz verankert und soll der
Leidens- und Empfindungsfähigkeit der Tiere Rechnung tragen [1]: ein großer
Erfolg, den wir Bündnisgrünen gemeinsam mit den Tierschutzorganisationen
erreicht haben. Diese verfassungsgemäße Wertentscheidung soll bei der
Gesetzgebung sowie bei der Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts beachtet
werden [2].
Eine Anwendung des geltenden Rechts betrifft den sogenannten Qualzuchtparagrafen
11b des Tierschutzgesetzes, der mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbundene
Gesundheits- oder Verhaltensstörungen bei gezüchteten Tieren verhindern soll –
eine Differenzierung zwischen Heim- und „Nutztieren“ ist nicht vorgesehen. Das
Staatsziel sowie das Tierschutzgesetz werden durch die in der agrarindustriellen
Landwirtschaft eingesetzten Legehennen sowie die schnell wachsenden Masthybriden
ad absurdum geführt, die einseitig für die Erzeugung von Hühnerfleisch bzw.
Hühnereiern gezüchtet sind. Aber auch Puten, Enten, Gänse, Tauben, Wachteln und
andere Vögel sind betroffen.
Die auf ein Maximum an Fleischansatz oder Legeleistung selektierte Zucht führt
zu genetisch bedingten Imbalancen und daraus folgenden Gesundheitsstörungen –
von Brustbeinbrüchen über Entzündungen bis zu Nekrosen, die aktuell mangels
tiergestützter Indikatoren während regulärer Kontrollen zudem kaum erfasst
werden. Bis zu 97 Prozent der Hennen einer Herde können von Frakturen und bis zu
83 Prozent der Hennen von Deformationen betroffen sein. Da Brustbeinfrakturen
und möglicherweise auch -deformationen mit hoher Wahrscheinlichkeit schmerzhaft
sind und die Bewegungsfähigkeit der betroffenen Tiere beeinträchtigen, werden
Brustbeinschäden als eines der größten Tierschutzprobleme in der
Legehennenhaltung betrachtet [3].
Die Folgen sind schwere Leiden und Schmerzen, die ein artgemäßes Verhalten nicht
zulassen und in erheblichem Umfang zum vorzeitigen Tod der Tiere führen. Dies
verstößt neben dem „Qualzuchtparagrafen“ auch gegen den Paragrafen 3 des
Tierschutzgesetzes, nach dem einem Tier keine Leistungen abverlangt werden
dürfen, denen es nicht gewachsen ist oder die offensichtlich seine Kräfte
übersteigen. Selbst unter Bio-Haltungsbedingungen wäre die Gesundheit dieser
Zuchten deutlich schlechter als von langsamer wachsenden Rassen für Bio-
Freilandhaltung [4,5]. Auch langsamer wachsende Masthybride weisen
Qualzuchtmerkmale auf.
Die Qualzucht und -haltung funktioniert oftmals nur unter permanentem, oftmals
prophylaktisch und metaphylaktisch erfolgendem Einsatz von Antibiotika [6] mit
entsprechender Auswirkung auf die Ernährungssicherheit und Gesundheitsrisiken
auch von uns Menschen durch multiresistente Keime [7].
Die bestehenden Regelungen werden einerseits aufgrund des im Tierschutzbereich
besonders häufigen Vollzugsdefizits kaum durchgesetzt, andererseits bestehen
systematische Lücken im Tierschutzgesetz, im Tierzuchtgesetz und in den
tierschutzrechtlichen Verordnungen. Eine Harmonisierung zwischen Tierzuchtgesetz
und dem eigentlich für alle Tiere geltenden Tierschutzgesetz ist dringend
erforderlich. Ebenso wie das Staatsziel sind die Forderungen für die Behebung
des Defizits im Bereich der Qualzuchten im Bereich der landwirtschaftlich
genutzten Tiere zwei Jahrzehnte alt. Aber trotz eines Beschlusses des
Bundesrates [8] und zahlreicher anderer Vorstöße [9,10] und Rechtsgutachten [11]
wurden entsprechende Initiativen nie fertiggestellt. Nun besagt der
Koalitionsvertrag 2021 des Bundes, die Qualzuchten im Tierschutzgesetz zu
konkretisieren.
Wir wollen von Berlin aus auf alle zuständigen Akteure unserer Partei einwirken,
folgende Maßnahmen vorzunehmen bzw. Ziele zu erreichen:
1. Wir unterstützen das Ziel der Bundesregierung, Qualzuchten effektiver zu
verhindern – die geplante Konkretisierung muss neben dem Bereich der sogenannten
Heim- und Kleintiere auch im Agrarbereich gehaltene Tiere erfassen. Im aktuellen
Referentenentwurf des Tierschutzgesetzes, der im Februar in die Länder- und
Verbändeanhörung gegangen ist, ist eine nicht abschließende Liste von
Qualzuchtmerkmalen, d. h. zuchtbedingter, typischen Störungen und Veränderungen,
definiert worden. Diese Listung sollte um solche Merkmale erweitert werden, die
die physiologische Kompensationsfähigkeit des Stoffwechsels der
landwirtschaftlich genutzten Tiere überfordern. Beispiele für solche Merkmale
sind überproportionale Bemuskelung einzelner Körperpartien, Schnellwüchsigkeit,
übergroße Euter, übermäßige Milch- oder Eierlegeleistung oder übermäßige Anzahl
von Zitzen.
Diese Erweiterung muss mit einer zeitnahen Aktualisierung des veralteten
„Qualzuchtgutachtens“ [12] oder entsprechenden zeitgemäßen und nachhaltigen
Alternativen verbunden werden und auch im Agrarbereich gehaltene Tiere
inkludieren, um einen effizienten Vollzug zu ermöglichen.
Durch eine Übergangsfrist darf bereits aktuell rechtswidriges Handeln nicht zu
Lasten der Tiere künftig legalisiert werden. das Tierzuchtgesetz und die
Allgemeine Verwaltungsvorschrift (AVV) zur Durchführung des Tierschutzgesetzes
müssen in diesem Sinne nachgeführt werden. Zusätzlich wäre die Erarbeitung einer
AVV Tierschutzüberwachung, analog der AVV Rahmenüberwachung in der
Lebensmittelüberwachung, wichtig, um eine bundesweit harmonisierte Durchführung
der amtlichen Überwachung im Tierschutz zu gewährleisten.
Generell dürfen sich aus der Zucht keine Belastungen für die Tiere ergeben
können, insbesondere wenn in der Folge Schmerzen, Leiden, Schäden oder Angst
beim Tier selbst oder bei dessen Nachkommen nach objektiven Verhältnissen
ernsthaft möglich erscheinen. Bei Masthühnern, Puten und anderen Vögeln muss die
maximale tägliche Gewichtszunahme auf eine Prozent- oder Gewichtsgrenze begrenzt
werden, die Schmerzen, Leiden oder Schäden vermeidet. Dies schafft
Rechtssicherheit und entlastet Veterinär*innen und Gerichte von für den Vollzug
aufwendigen Einzelfallentscheidungen über erkrankte Einzeltiere.
In Anlehnung an den Paragrafen 8 des österreichischen Tierschutzgesetzes sollten
ebenfalls die Vermittlung, die Weitergabe, der Erwerb, der Import und darüber
hinaus der Handel mit Tieren, die zuchtbedingte Defekte aufweisen, verhindert
werden. Das Verbot muss auch den Import von Produkten umfassen, die von
qualgezüchteten Tieren stammen. Gleichzeitig mit einer Aktualisierung der
gesetzlichen Regelungen wollen wir sicherstellen, dass in den Ländern und
Kommunen ein ausreichender Vollzug ermöglicht und durchgeführt wird.
2. Wir begrüßen, dass der Handel in den Niederlanden und Dänemark in einem
ersten Schritt den Ausstieg zumindest von den schnellstwachsenden Masthühnern
vollzieht. Wir wollen diesen Weg über eine Regulierung auf EU-Ebene unterstützen
und weiterführen, beispielsweise über eine Integration der Verhinderung von
Qualzuchten in der Landwirtschaft in die EU Tierzucht-Verordnung 1012/2016.
3. Berlin als großer Konsumstandort hat eine besondere Verantwortung. Daher
wollen wir im Rahmen der Ernährungsstrategie sowie Bildungsarbeit dafür Sorge
tragen, dass die Nachfrage nach Produkten, die von Tieren mit Qualzuchtmerkmalen
stammen, drastisch reduziert und über die Folgen der leider aktuell noch
bestehenden Qualzuchten und Qualhaltung von Tieren transparent informiert wird.
4. Anstatt auf die Anpassung an industrielle Tierhaltung müssen sich die
Forschung und auch alle Zuchtbemühungen auf gesunde Zuchtlinien fokussieren, die
den Tieren die Möglichkeit zum Ausleben des artgemäßen Verhaltensspektrums
gewähren. Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht als vernünftiger Grund für das
Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden an Tieren gelten. Dieser beim Töten
von männlichen Küken vom Bundesverwaltungsgericht festgelegte Grundsatz muss im
Tierschutzgesetz übernommen werden, u. a. damit Gerichte und Veterinärämter
vermehrt sicherstellen, dass dem Anspruch des Staatsziels Tierschutz im
Grundgesetz genügt wird [13].
Quellen
[1] BT-Drs. 14/8860, Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, FDP Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel
Tierschutz), 23.4.2002. https://dserver.bundestag.de/btd/14/088/1408860.pdf
[2] BMEL, Artikel zur Stellung des Tierschutzes im Grundgesetz, 2.9.2019:
https://www.bmel.de/DE/Tier/Tierschutz/_texte/StaatszielTierschutz.html
[3] FLI-Broschüre "Brustbeinschäden bei Legehennen - aktueller Stand des
Wissens", 19.7.2022.
https://www.openagrar.de/servlets/MCRFileNodeServlet/openagrar_derivate_00047411-
-/FLI-Zusatzinformation_Brustbeinschaeden-bei-Legehennen_bf.pdf
[4] Balluch, Martin (2021): Qualzucht- und Qualhaltungsaspekte bei Geflügel, in:
Neussel, Walter (Hrsg.): Verantwortbare Landwirtschaft statt Qualzucht und
Qualhaltung, S. 73 ff.
[5] Gregori, Linda (2021): Qualzucht und Qualhaltung bei landwirtschaftlich
genutzten Tieren, in: Neussel, Walter (Hrsg.): Verantwortbare Landwirtschaft
statt Qualzucht und Qualhaltung, S. 47 ff.
[6] Ebner, Rupert (2021): Antibiotika für Nutztiere: sinnvolle Therapie und
Missbrauch, in: Neussel, Walter (Hrsg.): Verantwortbare Landwirtschaft statt
Qualzucht und Qualhaltung, S. 167 ff.
https://www.oekom.de/_files_media/titel/leseproben/9783962383039.pdf
[7] BAG Tierschutzpolitik: Gesundheitsschutz und Zoonosenprävention in der
Tierhaltung, 22.5.2018. https://gruene-bag-
tierschutzpolitik.de/userspace/NW/bag_tierschutzpolitik/Dokumente/Beschluesse/20-
-2 2-05- 08_Zoonosen-Praevention.pdf
[8] BR-Drs. 36/03, Entschließung des Bundesrates zur Qualzucht.
https://www.bundesrat.de/bv.html?id=0036-03
[9] Beschluss der Agrarministerkonferenz: Anwendung des §11b Tierschutzgesetz
auf die Zucht landwirtschaftlicher Nutztiere, 20.3.2015.
https://www.agrarministerkonferenz.de/documents/endgueltiges_ergebnisprotokoll_a-
-m k_bad_hombu- rg_20-03-2015_2_1510304313.pdf
[10] Bundestierärztekammer: „Resolution, Zuchtziele in der Nutztierzucht unter
Tierschutzaspekten“, 18.4. 2016.
https://www.bundestieraerztekammer.de/btk/downloads/fachausschuesse/Resolution_Z-
-u chtziele_in- _der_Nutztierzucht_final.pdf
[11] Cirsovius, Thomas: Rechtsgutachten Tierschutzrechtliche Vorgaben im
Zusammenhang mit der Milchviehzucht (erstellt im Auftrag der Tierärztekammer
Berlin), 25.5.2021. https://djgt.de/wp-
content/uploads/2022/06/22_04_07_Cirsovius_Gutachten- Milchviehzucht.pdf
[12] BMEL: „Gutachten zur Auslegung von Paragraf 11b des Tierschutzgesetzes“,
26.10.2005. https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-
paragraf11b.html
[13] Bülte, Jens / Felde, Barbara / Maisack, Christoph (Hrsg.) (2022): Reform
des Tierschutzrechts. Die Verwirklichung des Staatsziels Tierschutz de lege
lata. https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748928478/reform-des-
tierschutzrechts