Veranstaltung: | Landesausschuss 29. Mai 2024 |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | TOP 5 Weitere Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesausschuss |
Beschlossen am: | 29.05.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Tierschutzkahlschlag in Berlin verhindern – eine starke Stimme für die Tiere mit unabhängigen Tierschutzbeauftragten
Beschlusstext
Seit Amtszeit des bündnisgrün-beteiligten Senats 2017 ist das Amt des*der
Berliner Landestierschutzbeauftragte*n hauptamtlich besetzt, was einen
entscheidenden Fortschritt für den Tierschutz in Berlin darstellt. Die
Stellenausschreibung sah vor, dass die Tätigkeit fachaufsichtlich weisungsfrei
erfolgen kann, der*die Landestierschutzbeauftragte verfügte bislang über einen
Stab an Mitarbeiter*innen, ein eigenes Budget und die Möglichkeit unabhängiger
Stellungnahmen und Pressearbeit.
Der neue Senat möchte diese Fortschritte rückgängig machen, und die bisherige
bloße „Zuordnung“ des Amts zur Senatsverwaltung Verbraucherschutz durch ein
politisches Weisungsrecht und Blockaden in eine hierarchische Unterordnung
ändern – und damit sogar eine absurde Doppelstruktur zu schaffen, denn es gibt
bereits ein Fachreferat zum Tierschutz in derselben Senatsverwaltung. Auch die
von der Berliner Landestierschutzbeauftragten bisher vergebenen Preise für
tierfreie Forschung und die Finanzierung von Forschungsprojekten für die
Reduktion von Tierversuchen durch „New Approach Methods“ (NAM) und Umstieg auf
innovative tierfreie Forschung wurden seit dem Regierungswechsel blockiert. Da
der Vollzug im Tierschutz über Verwaltung oder Gerichte stark begrenzt ist, und
sich Tiere, anders als Tiernutzer*innen auf der Gegenseite, nicht selbst zu Wort
melden können, ist es zur Durchsetzung des Staatsziels Tierschutz im Grundgesetz
erforderlich, dass das Amt des*der Beauftragten eine starke, unabhängige
Stellung als Stimme der Tiere hat.
Für uns Bündnisgrüne ist es wichtig, klare Absichten zu formulieren, damit neben
parlamentarischen Anträgen zum Thema das Amt bei einer erneuten
Regierungsbeteiligung nicht nur erhalten, sondern weiter gestärkt wird – und
Bürger*innen wissen, dass wir Tierschutz als Partei ernst nehmen. Wir wollen das
Amt des*der Tierschutzbeauftragten gesetzlich als weisungsfrei sichern und
tatsächlich nachhaltig unabhängig gestalten, mit den notwendigen Ressourcen und
Kompetenzen, einem Maßnahmenbudget und Personal, d. h. eigenen Planstellen für
Jurist*innen sowie Tierärzt*innen und Verwaltungsangestellte für Stellungnahmen
und Öffentlichkeitsarbeit ausstatten sowie eine effektive Kontroll- und
Appellfunktion ermöglichen. Das Amt des*der Datenschutzbeauftragten ist in der
Berliner Verfassung abgesichert – das sollte auch bei dem*der
Tierschutzbeauftragen so sein.
Für die Unabhängigkeit sollte das Amt lediglich der Rechtsprüfung des
Rechnungshofs unterliegen, nicht der Dienst-, Rechts- oder Fachaufsicht durch
ein Senatsmitglied oder eine andere politische Instanz. Auch die Besetzung
sollte extern und unabhängig erfolgen, um parteipolitische Interessenkonflikte
zu vermeiden. Nur „Unabhängig“ kann aber immer noch bedeuten, nicht gehört zu
werden oder keinen Zugriff auf die entscheidenden Informationen oder Vorgänge zu
bekommen.
Zentral für die Kontrollfunktion, und eine Basis für eine effektive
Appellfunktion ist, dass der*die Tierschutzbeauftragte strukturell in Verfahren
und Gremien eingebunden wird, und Zugriff auf alle relevanten Informationen hat
– d.h. Auskunfts- und Akteneinsichtsrechte mit einem Anweisungsrecht, alle
Informationen bereitzustellen, die für die Erfüllung der Aufgaben erforderlich
sind. Wichtig ist ebenso Beteiligung, Beratung und Möglichkeit zur Beanstandung
bei rechtlichen Vorhaben und Verwaltungsvorgängen, welche den Tierschutz
betreffen, und die Mitwirkung an EU-, Bundesrats- und Abgeordnetenhaus-
Angelegenheiten zu Tierschutzfragen. Auch die Mitwirkung bei der Anwendung tier-
, arten- und habitatschutzrechtlicher Bestimmungen durch die Behörden der
Landes- und Bezirksebene sowie die Einrichtungen und Unternehmen des Landes
gehört zur Aufgabe, die Rechte der Tiere stellvertretend wahrzunehmen.
Diese starke Stimme für die Tiere ist nicht nur abstrakt – sondern in Berlin
gibt es viele konkrete Herausforderungen und Chancen im Tierschutz, für die
ein*e effektive*r Tierschutzbeauftragte*r wichtig ist – hier sind einige Punkte
aus den unterschiedlichen Bereichen genannt.
1. Bundesland und Bundesstaat: Berlin kann und sollte über den Bundesrat
Einfluss auf die Bundespolitik nehmen, denn die Kompetenz für das
Tierschutzrecht liegt zumeist auf Ebene des Bundes und der EU. Der*die
Landestierschutzbeauftragte sollte dafür in die Vernetzung der Behörden des
Landes und des Bundes eingebunden werden und somit qualifizierte(re) Anregungen
geben können, wie Berlin den Tierschutz fördern kann.
Zum Beispiel durch Anregung der Einleitung eines Normenkontrollverfahrens durch
die Landesregierung - von der damaligen bündnisgrün-beteiligten Landesregierung
wurde ein solches Anfang 2019 zur Haltung von Schweinen eingeleitet. Neben
anderen Haltungsformen steht diese in der Kritik, da sie weder mit dem
Grundgesetz noch dem Tierschutzgesetz vereinbar scheint. Es besteht ein
öffentliches Interesse an der Entscheidung hierüber durch das
Bundesverfassungsgericht. Bürger*innen, die sich nicht nur in Berlin, sondern
bundesweit mehr Tierschutz wünschen, wie auch Bäuer*innen, (Amts-
)Veterinär*innen, Verwaltung und Justiz erwarten klärende Worte vom
Bundesverfassungsgericht. Die Dauer des Verfahrens ist im Vergleich zum
Legehennenverfahren durchaus im Rahmen, und das Verfahren ist bereits weit
vorangeschritten. Der aktuelle Senat prüft derzeit eine eventuelle Rücknahme des
Normenkontrollantrags – dies ist jedoch rein parteipolitisch motiviert und durch
objektive Gründe nicht nachvollziehbar, würde dem Grundsatz der Effizienz
widersprechen und die Öffentlichkeit, die Verfassungskonformität erwartet, vor
den Kopf stoßen.
Der*die Landestierschutzbeauftragte kann und sollte Fakten deutlich und
öffentlich aussprechen können, auch wenn sie vom Senat politisch unerwünscht
sind. Wir fordern eine Fortsetzung des Verfahrens und werben bei bündnisgrün-
beteiligten Bundesländern dafür, dies zu unterstützen.
2. Großstadt-Themen: In Berlin gibt es andere Herausforderungen als in
Flächenländern und der*die Landestierschutzbeauftragte ist entscheidend, um
nachhaltige und tiergerechte Lösungen voranzubringen.
Ein wichtiges Thema sind die Stadttauben. Für mehr Sauberkeit und Tierschutz und
um die Zahl der Tauben zu reduzieren, sprechen wir uns für ein
Populationsmanagement mit betreuten Taubenschlägen, artgerechtem Futter und
Eiertausch aus, so wie es aktuell in Hamburg eingeführt wird, in den meisten
deutschen Städten praktiziert wird und in Berlin zumindest für Pilotprojekte
vorgesehen ist. Für die Stadttauben und die im Stadttaubenschutz engagierten
Berliner*innen wird damit Hilfe statt Repression erreicht.
Die Schwärme entstehen ursächlich aus willkürlich ausgesetzten und für das
Flugziel zu erschöpften Haustieren – daher muss unbedingt auch an den Ursachen
wie der Taubenzucht angesetzt werden. Die Symptome durch ein allgemeines
Fütterungsverbot bekämpfen zu wollen ist keine Lösung, da die Folgen mehr
verhungernde Tiere und mehr Hungerkot bei der Aufnahme von Müll wären, eine
tierärztliche Versorgung und Lenkung der Taubenschwärme erschwert oder
verunmöglicht und die Tiere weiter stigmatisiert würden. Die den Tauben
angezüchtete Bruthäufigkeit fällt durch eine tierschutzwidrige Aushungerung und
Verelendung nicht weg.
3. Klimaschutz: Der Zusammenhang zwischen der Gesundheit der Natur, der Menschen
und der Tiere ist nicht erst seit der Pandemie wichtig, denn auch die
Überschreitung der planetaren Grenzen bedroht unsere Zukunft. Der „One Health“-
Ansatz im Sinne der WHO wird auch von der Bundesregierung unterstützt, und
beinhaltet auch die Auswirkungen unserer aktuellen Ernährungsweise. Empfehlungen
wie die „Planetary Health Diet“ sind wichtiges Thema für den Konsumstandort
Berlin, um unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern.
Die Landestierschutzbeauftragte hatte vor dem Regierungswechsel eine
Informationskampagne über den Zusammenhang zwischen Klimawandel, Tierhaltung und
globaler Gesundheit ausgearbeitet. Das Ziel war die allgemein verständliche und
prägnante Vermittlung naturwissenschaftlich nachgewiesener Zusammenhänge und dem
Aufzeigen konkreter eigenverantwortlicher Handlungsmöglichkeiten. Auch dieses
Engagement und die Plakatmotive wurden von der neuen Senatsverwaltung blockiert.
4. Initiativen und Verbände: Der*die Tierschutzbeauftragte und die
Mitarbeitenden der Stabsstelle sind zentrale Ansprechpartner und helfen neben
der Zivilgesellschaft auch der Politik mit schnellen und unbürokratischen
Stellungnahmen – diese Möglichkeit muss erhalten bleiben. Wirksam wird
Tierschutz in Kombination mit einem Verbandsklagerecht, so wie es im Naturschutz
seit langem selbstverständlich ist, im Tierschutz jedoch in vielen Bundesländern
nicht besteht oder gesichert ist.
Wir sprechen uns für den Erhalt und die Stärkung des Berliner
Verbandsklagerechts für anerkannte Tierschutzorganisationen aus, die neben der
Möglichkeit von effektiver Akteneinsicht in Straf- und
Ordnungswidrigkeitsverfahren des Landes und der Bezirke die Möglichkeit einer
Anfechtungsklage für alle Bereiche des Tierschutzes erhalten sollen. Da die
Verfahren für Verbände aktuell oft zu aufwändig und teuer sind, sollte nach dem
Vorbild Österreich auch der*die Tierschutzbeauftragte in Gerichtsverfahren
selbst eine „Parteistellung“ erhalten, in alle Verfahrensakten Einsicht nehmen
sowie alle einschlägigen Auskünfte erhalten können.
Effektiver Tierschutz und die Überwindung der „Vollzugsdefizite“ können manchmal
auch unbequem sein, sowohl für Verwaltung als auch Politik – wir akzeptieren,
dass zur Umsetzung des Tierschutzgesetzes und der Erreichung des Staatsziels im
Grundgesetz neben Transparenz auch öffentliche Konflikte notwendig und hilfreich
sein können. Die Landestierschutzbeauftrage, Verbände und Veterinärämter können
mit einer sich gegenseitig unterstützenden Zusammenarbeit viel für die Tiere
erreichen.
6. Haustiere: Die Haltung aller Tiere erfordert eine Sachkunde zu einem
angemessenen Umgang und einer tiergerechten Haltung und Pflege. Anders als in
anderen EU-Ländern ist in Deutschland sogar die Einzelhaltung sozialer Tierarten
weiterhin möglich, und mangelndes Wissen über die Folgen dieser Isolation oder
falscher Zusammenhaltung verschiedener Arten verstärkt das Problem. Der*die
Landestierschutzbeauftragte kann informieren, soll aber auch nachhaltige
Lösungen einfordern und begleiten können.
Als einer der ersten Schritte auf dem Weg zu einer Modellstadt, in der Mensch
und Haustier gut zusammenleben können, muss in Berlin der Umgang mit allen
Hunden tierschutzgerechter gestaltet werden. Insbesondere muss die
stigmatisierende und nicht zielführende Rasseliste durch einen verbindlichen
Sachkundenachweis als „Hundeführerschein“ für alle Rassen ersetzt werden. Eine
Theorie- und Praxisprüfung sichert die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten
und nutzt Mensch und Tier. Zudem würde der Spontankauf von Hunden deutlich
reduziert werden - sogenannte Listenhunde leben teils bis an ihr Lebensende im
Tierheim, weil die Vermittlung von ihnen aufgrund der bisherigen gesetzlichen
Regelungen und ihrer Stigmatisierung enorm schwierig ist.
7. Stadtwildtiere: Igel, Fuchs, Spatz und Co gehören zu Berlin. Diese Wildtiere
bereichern unser Leben und wir wollen ihnen über tiergerechtes Gestalten
(„Animal Aided Design“) von Gebäuden und Grünflächen sowie eine Vernetzung ihrer
Habitate über Biotopverbünde und die Lebensraumgestaltung in den Berliner
Wäldern die Stadt lebenswert erhalten.
Über Pressearbeit, Bürger*innenberatung und Bildungsformate wie das Berliner
Tierschutzforum und die Vortragsreihe „Wildtiere in der Stadt“ trägt das Amt
der*des Landestierschutzbeauftragten dazu bei, dass das Zusammenleben von
Menschen und Wildtieren gut funktioniert. Artenschutz und Tierschutz sind kein
Widerspruch, sondern überschneiden und ergänzen sich – beides ist im selben
Artikel des Grundgesetzes als Staatsziel definiert. Das Tötungsverbot im
Naturschutzgesetz unterstreicht die Wichtigkeit auch individueller Tiere.
Die große Herausforderung in Berlin bei Wildtieren ist die tierärztliche
Versorgung. Wir sprechen uns für die Einrichtung eines Wildtierzentrums aus, das
Kompetenz und Versorgung bündelt und bestehende Initiativen mit einbezieht,
indem sie monetär und mit Fortbildungsangeboten unterstützt werden. Ziel ist es,
dass Bürger*innen und Initiativen mit verletzten oder kranken Tieren auch in
Berlin ausreichende Hilfe und Unterstützung finden.