| Veranstaltung: | LA am 10. Dezember 2025 |
|---|---|
| Tagesordnungspunkt: | 3. Verschiedenes |
| Antragsteller*in: | Landesvorstand GRÜNE JUGEND Berlin (dort beschlossen am: 17.11.2025) |
| Status: | Eingereicht |
| Eingereicht: | 26.11.2025, 15:26 |
V-10: Wehrpflicht nein danke! Freiwilligendienste strukturell stärken
Antragstext
Spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigt
sich, dass Frieden und Freiheit in Europa keine Selbstverständlichkeiten mehr
sind. Auch Deutschland steht zunehmend im Fokus hybrider Bedrohungen: von
Cyberangriffen über Desinformation bis hin zu Versuchen gezielter
gesellschaftlicher Destabilisierung. Wir nehmen diese veränderte
sicherheitspolitische Lage ernst, ebenso wie die damit verbundenen Sorgen und
Ängste der Bevölkerung.
Diese Realität markiert eine echte sicherheitspolitische Zeitenwende, eine
Zäsur, die von uns verlangt, Wehrhaftigkeit und Resilienz neu zu denken. Doch
eine Zeitenwende bedeutet nicht automatisch die Rückkehr zu alten und überholten
Konzepten, wie die Bundesregierung sie plant.
Am 13. November 2025 einigte sich die Bundesregierung aus Union und SPD auf das
sogenannte Wehrdienstmodernisierungsgesetz (WDModG). Angelehnt an das
Schwedische Modell soll zunächst auf die Förderung von Freiwilligkeit gesetzt
werden. Verpflichtend ist zunächst nur das Ausfüllen eines Fragebogens und die
Musterung aller jungen Männer, die 2008 oder später geboren wurden. In Berlin
würde das im kommenden Jahr 16.000 Jugendliche betreffen. Melden sich dennoch
nicht genug Personen freiwillig, sieht der Gesetzentwurf eine Bedarfswehrpflicht
vor, die vom Bundestag beschlossen werden kann. Das Verfahren dafür steht noch
nicht vollständig fest, aber auch Zufallsverfahren wie das Losverfahren werden
weiterhin debattiert.
Als Bündnis 90/Die Grünen Berlin lehnen wir eine Wiedereinführung der
Wehrpflicht oder die Einführung anderweitiger Pflichtdienste entschieden ab. Ein
verpflichtendes Dienstjahr, wie es von konservativen Kreisen gefordert wird, ist
ein gesellschaftspolitischer Rückschritt und steht in klarem Widerspruch zu
unseren Grundwerten von Selbstbestimmung und Freiheit. Stattdessen setzen wir
darauf, bestehende Angebote des freiwilligen, gesellschaftlichen Engagements zu
stärken, bestehende Hürden abzubauen und Strukturen, die echte Beteiligung und
Zusammenhalt ermöglichen, zu stärken.
Schluss mit Politik über die Köpfe junger Menschen hinweg
In der öffentlichen Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht geht die
Perspektive junger Menschen oftmals unter. Gleichzeitig zeigen Umfragen seit
Jahren ein eindeutiges Bild: Diejenigen, die am Ende einen Pflichtdienst
ableisten müssten, lehnen ihn klar ab. Mehr als 60 % der unter 30-Jährigen
sprechen sich regelmäßig gegen eine Wehrpflicht aus und laut einer von
Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie würde eine Mehrheit der 16- bis 25-
Jährigen den Dienst an der Waffe sogar verweigern. Diese Zahlen verdeutlichen:
Junge Menschen wollen selbst bestimmen, wie und wo sie Verantwortung übernehmen.
Dabei ist es gerade diese junge Generation, die in den vergangenen Jahren
bereits enorme Lasten getragen hat. Während der Corona-Pandemie hat sie sich
zurückgenommen, zentrale Erfahrungen ihrer Jugend verpasst und ältere sowie
vulnerable Gruppen geschützt. Die negativen Auswirkungen dieser Zeit in den
Bereichen Bildung und mentaler Gesundheit wurden politisch nie aufgefangen.
Heute ringt sie mit hohen Mieten, gestiegenen Preisen und Unsicherheit in
Ausbildung, Studium und Beruf und wird die dramatischsten Folgen der Klimakrise
erleben. Hinzu kommt der jahrzehntelange Investitionsstau in Bildung,
Infrastruktur und Daseinsvorsorge, dessen Konsequenzen junge Menschen bereits
heute ausbaden müssen und die das Vertrauen in Politik und staatliche
Institutionen seit Jahren schwächen.
Vor diesem Hintergrund einen militärischen oder gesellschaftlichen Pflichtdienst
einzufordern bedeutet, eine Generation in die Verantwortung für die
Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu ziehen, der die Politik selbst über Jahre
hinweg elementare gesellschaftliche Verantwortung schuldig geblieben ist. Von
jungen Menschen zu verlangen, die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte
auszubügeln und die gesellschaftliche Verantwortung der Verteidigungsfähigkeit
zu schultern, während ihre eigenen Bedürfnisse, Chancen und Lebensrealitäten
politisch zu lange vernachlässigt wurden, geht gegen den Grundwert der
Generationengerechtigkeit, für den wir als Partei wie keine andere stehen.
Für uns steht fest: Junge Menschen sind nicht bloß eine Ressource, auf die der
Staat im Krisenfall zurückgreifen kann, sondern aktive Mitgestalter*innen
unserer demokratischen Gesellschaft. Sie brauchen Räume, in denen sie
selbstbestimmt handeln können und eine Politik, die ihnen zutraut, Verantwortung
freiwillig zu übernehmen. Was sie nicht brauchen, sind staatliche
Pflichtdienste, die ihre Freiheit einschränken und ihre Perspektiven ignorieren.
Strukturelle Probleme in der Bundeswehr anerkennen und beheben
Strukturell verfügt die Bundeswehr derzeit weder über die notwendige
Infrastruktur noch über ausreichende personelle Kapazitäten, um eine
Wiedereinführung der Wehrpflicht überhaupt sinnvoll umsetzen zu können. Es
mangelt an Ausbilder*innen, an Material, an Unterkünften, an modernen
Übungsplätzen und an flexiblen Organisationsstrukturen. Hinzu kommen massive
Probleme im Beschaffungswesen.
Gleichzeitig bestehen tiefgehende institutionelle Problemen: Immer wieder rücken
rechtsextreme Netzwerke in der Bundeswehr, insbesondere im KSK, in den Fokus.
Berichte über Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zeigen, dass die
Bundeswehr strukturell noch weit von einem inklusiven, diskriminierungsfreien
Umfeld entfernt ist. Anstatt junge Menschen in solche Strukturen zu zwingen,
braucht es konsequente Aufarbeitung und transparente Kontrollmechanismen.
Darüber hinaus braucht es eine umfassende und verpflichtende Weiterbildung aller
Angehörigen der Bundeswehr zu Diskriminierung, Vielfalt und demokratischer
Kultur. Wer in staatlicher Verantwortung steht und mit Waffen ausgebildet wird,
muss für Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und jede andere
Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sensibilisiert werden.
Dass die Bundeswehr für viele junge Menschen kein attraktives Arbeitsumfeld
darstellt, zeigt sich auch in den hohen Abbruchquoten von rund 25 % in den
ersten Dienstmonaten. Diese Quote ist ein Symptom systemischer Probleme, nicht
fehlender „Verantwortungsbereitschaft“ einer Generation.
Junge Menschen sind keine Lückenfüller: soziale Infrastruktur stärken
Der Fachkräftemangel im sozialen Sektor ist seit Jahren ein zunehmendes Problem
und wird sich in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen. Besonders in der
Pflege, in Kitas, in der Jugendhilfe und in Einrichtungen für Menschen mit
Behinderungen fehlen qualifizierte Fachkräfte. Diese Versorgungslücken entstehen
jedoch nicht, weil es zu wenige junge Menschen gibt, die grundsätzlich bereit
wären, im sozialen Bereich zu arbeiten, sondern weil der Staat seit Jahren darin
versagt, verlässliche und attraktive Rahmenbedingungen für Beschäftigte im
sozialen Bereich zu schaffen.
Ein Pflichtdienst adressiert weder die Ursachen des Fachkräftemangels noch die
strukturellen Schwächen des sozialen Sektors. Der damit verbundene Mehraufwand
für Supervision, Wissensvermittlung und organisatorische Betreuung würde
bestehende Engpässe eher verschärfen, als sie zu beheben. Statt tiefgreifenden
Lösungsansätzen durch zum Beispiel Investitionen in Bildung und Ausbildung
werden hier Scheinlösungen mit jungen Menschen als Leidtragenden vorgeschlagen.
Auch große Wohlfahrtsverbände und Träger von Freiwilligendiensten wie der
Paritätische Gesamtverband oder die Diakonie haben sich zuletzt entschlossen
gegen eine Dienstpflicht geäußert und weisen auf die mit einer Dienstpflicht
einhergehenden Grundrechtsverletzungen sowie den immensen organisatorischen
Aufwand und die Kosten hin. Außerdem kritisieren sie, dass soziale Berufe durch
so einen Eingriff abgewertet werden.
Freiwilligendienste strukturell stärken
Bereits heute engagieren sich bis zu 100.000 Menschen jedes Jahr im Rahmen von
Freiwilligendiensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), dem
Bundesfreiwilligendienst (BFD) oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ).
Zumeist sind es junge Menschen, die sich nach ihrer Schulzeit für ein Jahr des
gesellschaftlichen Engagements entscheiden und Tag für Tag Verantwortung
übernehmen. Sie unterstützen Pflegekräfte in Altenheimen, begleiten Kinder und
Jugendliche in Schulen und Kitas, helfen Menschen mit Behinderung im Alltag oder
setzen sich für den Klima- und Naturschutz ein.
Mit ihrem Einsatz stärken sie nicht nur soziale Einrichtungen und gemeinnützige
Organisationen, sondern sammeln auch selbst wertvolle und nachhaltig-prägende
Erfahrungen. Viele entdecken durch ihren Freiwilligendienst neue berufliche
Perspektiven, lernen ihre eigenen Fähigkeiten besser kennen und entwickeln ein
starkes Bewusstsein für gesellschaftliche Zusammenhänge. Nicht selten entstehen
aus diesem Engagement langfristige berufliche oder ehrenamtliche Bindungen, die
weit über das eigentliche Dienstjahr hinausreichen.
Freiwilligendienste zeigen: junge Menschen sind bereit, sich einzubringen,
gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und sich zu engagieren. Politik
muss diese Bereitschaft stärken, statt auf Zwang und Bevormundung zu setzen.
Statt Debatten über ein Pflichtjahr braucht es verlässliche finanzielle und
strukturelle Rahmenbedingungen, bessere Anerkennung von Leistungen und niedrige
Zugangshürden für alle Menschen, die sich bereits heute freiwillig engagieren
wollen.
Freiwilligendienste stehen seit Jahren unter Druck. Einsatzstellen kämpfen um
eine ausreichende Finanzierung. Im Bundeshaushalt 2025 sind Kürzungen bei
Freiwilligendiensten von rund 40 Millionen € vorgesehen, was etwa 20% weniger im
Vergleich zum Vorjahr sind. Und für die Freiwilligen reicht das Taschengeld bei
langem nicht aus um sich das Leben zu finanzieren - schon gar nicht in einer
Stadt wie Berlin!
Und trotzdem werden nach aktuellen Haushaltsplänen des Bundes etwa ein Drittel
der aktuellen Mittel für Freiwilligendienste gestrichen. Junge Menschen leiden
schon jetzt unter kaputtgesparten Strukturen im Bereich des Freiwilligendienstes
und auch in der Bundeswehr.
Darüber hinaus braucht es eine langfristige Absicherung der Trägerstrukturen,
die Freiwilligendienste organisieren und begleiten. Eine verlässliche
Finanzierung, hochwertige pädagogische Begleitung und klare Qualitätsstandards.
Deshalb fordern wir als Bündnis 90/Die Grünen Berlin:
Einen Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst
Jede Person, die sich gesellschaftlich engagieren möchte, soll ein
gesetzlich verankertes Recht auf einen Freiwilligendienst haben und
dies unabhängig vom Alter, Gender oder finanziellen Hintergrund.
Finanzielle Absicherung von Freiwilligendiensten
Wir fordern eine Anhebung des Taschengeldes für Freiwillige, die
sich am BAföG-Höchstsatz orientiert und aus dem Bundeshaushalt
finanziert wird. So kann Chancengleichheit erhöht werden und
sozialer Ungleichheit entgegengewirkt werden.
Kostenloser Zugang zum ÖPNV für alle Freiwilligen
Wir fordern eine kostenfreie Bereitstellung des Deutschlandtickets
für Freiwillige, um die finanzielle Belastung zu reduzieren. Des
Weiteren müssen Freiwillige Anspruch auf die gleichen
Vergünstigungen wie Senior*innen oder Studierende erhalten.
Sichtbarkeit von Freiwilligendiensten erhöhen
Wir fordern eine bundesweite Informationskampagne, mit einem
Motivationsschreiben des/der Bundespräsidenten*in an alle
Schulabgänger*innen. Damit soll Menschen geholfen werden, einen
Überblick über die Vielfalt und die Möglichkeiten bestehender
Programme zu erhalten.
Vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Gesamtlage, der strukturellen
Defizite in der Bundeswehr und der bestehenden Engpässe im sozialen Bereich ist
klar: Pflichtdienste oder die Wiedereinführung der Wehrpflicht sind weder
gerecht noch wirksam. Junge Menschen sollen nicht Zwangsdienste leisten, um
politische Versäumnisse auszugleichen, sondern Räume erhalten, in denen sie
freiwillig Verantwortung übernehmen können. Bündnis 90/Die Grünen Berlin stehen
deshalb für eine konsequente Stärkung freiwilliger Dienste, die Engagement,
Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und wertschätzen.
Begründung
Die Einigung der Bundesregierung am 13. November 2025 ist erst nach Ablauf der Antragsfrist und der Änderungsantragsfrist für die Landesdelegiertenkonferenz, für die dieser Antrag ursprünglich eingereicht wurde, Zustande gekommen. Als Partei und als Landesverband brauchen wir daher umgehend eine klare Positionierung in dieser Frage, um den Menschen in dieser Stadt, insbesondere den jungen Menschen, Orientierung und politische Verlässlichkeit zu bieten.
Die geplanten Regelungen greifen tief in die Selbstbestimmung junger Menschen ein und sind mit unseren Grundwerten von Freiheit, Selbstbestimmung und Generationengerechtigkeit unvereinbar. Gleichzeitig adressieren sie weder die tatsächlichen Herausforderungen für die Bundeswehr noch die strukturellen Defizite im sozialen Bereich. Statt junge Menschen in Pflichtdienste zu zwingen, sollten wir ihre Bereitschaft zu freiwilligem gesellschaftlichem Engagement stärken und ihnen echte Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Dies kann nur mit struktureller Förderung von bestehenden Programmen und Angeboten geschehen.
Quellen:
Änderungsanträge
- V-10-021 (Hanna Steinmüller (KV Berlin-Mitte), Eingereicht)
- V-10-022 (Hanna Steinmüller (KV Berlin-Mitte), Eingereicht)
- V-10-022-2 (Peter Schaar (KV Berlin-Charlottenburg/Wilmersdorf), Eingereicht)
- V-10-022-3 (Daniel Eliasson (KV Berlin-Steglitz/Zehlendorf), Eingereicht)
- V-10-022-4 (Klara Schedlich (LV Grüne Jugend Berlin), Eingereicht)
- V-10-029 (Daniela Ehlers (KV Berlin-Lichtenberg), Eingereicht)
- V-10-038 (Klara Schedlich (LV Grüne Jugend Berlin), Eingereicht)
- V-10-064 (Klara Schedlich (LV Grüne Jugend Berlin), Eingereicht)
- V-10-076 (Daniel Eliasson (KV Berlin-Steglitz/Zehlendorf), Eingereicht)
- V-10-164 (Peter Schaar (KV Berlin-Charlottenburg/Wilmersdorf), Eingereicht)