Veranstaltung: | LDK am 9. Dezember 2023 |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | TOP 10 Weitere Anträge |
Antragsteller*in: | LAG Tierschutzpolitik (dort beschlossen am: 03.11.2023) |
Status: | Zurückgezogen |
Eingereicht: | 03.11.2023, 23:43 |
V-5: Hühner, zur Sonne, zur Freiheit – Qualzuchten bei Geflügel beenden
Antragstext
Tierschutz ist seit 2002 als Staatsziel im Grundgesetz verankert und soll der Leidens- und
Empfindungsfähigkeit der Tiere Rechnung tragen (1): ein großer Erfolg, den wir Bündnisgrünen
gemeinsam mit den Tierschutzorganisationen erreicht haben. Diese verfassungsgemäße
Wertentscheidung soll bei der Gesetzgebung sowie bei der Auslegung und Anwendung des
geltenden Rechts beachtet werden (2).
Eine Anwendung des geltenden Rechts betrifft den sogenannten Qualzuchtparagrafen 11b des
Tierschutzgesetzes, der mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbundene Gesundheits- oder
Verhaltensstörungen bei gezüchteten Tieren verhindern soll – eine Differenzierung zwischen
Heim- und „Nutztieren“ ist nicht vorgesehen. Das Staatsziel sowie das Tierschutzgesetz
werden im Bereich des Geflügels auch durch die in der agrarindustriellen Landwirtschaft
eingesetzten Legehennen sowie die schnell wachsenden Masthybriden ad absurdum geführt, die
einseitig für die Erzeugung von Hühnerfleisch bzw. Hühnereiern gezüchtet sind.
Die auf ein Maximum an Fleischansatz oder Legeleistung selektierte Zucht führt zu genetisch
bedingten Imbalancen und daraus folgenden Gesundheitsstörungen – von Brustbeinbrüchen über
Entzündungen bis zu Nekrosen, die aktuell mangels tiergestützter Indikatoren während
regulärer Kontrollen zudem kaum erfasst werden. Die Folgen sind schwere Leiden und
Schmerzen, die ein artgemäßes Verhalten nicht zulassen und in erheblichem Umfang zum
vorzeitigen Tod der Tiere führen.. Dies verstößt neben dem „Qualzuchtparagrafen“ auch gegen
den Paragrafen 3 des Tierschutzgesetzes, nach dem einem Tier keine Leistungen abverlangt
werden dürfen, denen es nicht gewachsen ist oder die offensichtlich seine Kräfte
übersteigen. Selbst unter Bio-Haltungsbedingungen wäre die Gesundheit dieser Zuchten
deutlich schlechter als von langsamer wachsenden Rassen für Bio-Freilandhaltung (3,4).
Die bestehenden Regelungen werden einerseits aufgrund des im Tierschutzbereich besonders
häufigen Vollzugsdefizits kaum durchgesetzt, andererseits bestehen systematische Lücken im
Tierschutzgesetz, im Tierzuchtgesetz und in den tierschutzrechtlichen Verordnungen. Eine
Harmonisierung zwischen Tierzuchtgesetz und dem eigentlich für alle Tiere geltenden
Tierschutzgesetz ist dringend erforderlich. Ebenso wie das Staatsziel sind die Forderungen
für die Behebung des Defizits im Bereich der Qualzuchten im Bereich der landwirtschaftlich
genutzten Tiere zwei Jahrzehnte alt. Aber trotz eines Beschlusses des Bundesrates (7) und
zahlreicher anderer Vorstöße (8,9) und Rechtsgutachten (10) wurden entsprechende Initiativen
nie fertiggestellt. Nun besagt der Koalitionsvertrag 2021 des Bundes, die Qualzuchten im
Tierschutzgesetz zu konkretisieren.
Wir wollen von Berlin aus auf alle zuständigen Akteure unserer Partei einwirken, folgende
Maßnahmen vorzunehmen bzw. Ziele zu erreichen:
1. Wir unterstützen das Ziel der Bundesregierung, Qualzuchten effektiver zu verhindern – die
geplante Konkretisierung muss neben dem Bereich der sogenannten Heim- und Kleintiere
insbesondere im Agrarbereich gehaltene Tiere wie beispielsweise Geflügel erfassen. Eine
nicht abschließende Liste von Qualzuchtmerkmalen, d. h. typischen Störungen und
Veränderungen, soll auf der Ebene des Tierschutzgesetzes verbindlich definiert werden. Dies
muss mit einer zeitnahen Aktualisierung des veralteten „Qualzuchtgutachtens“ (11) oder
entsprechenden zeitgemäßen und nachhaltigen Alternativen verbunden werden, um auch im
Agrarbereich gehaltene Tiere erfassen und den Vollzug ermöglichen zu können – hierbei sollte
auch die Kompetenz des Qualzucht-Evidenz Netzwerks QUEN genutzt werden. Auch das
Tierzuchtgesetz und die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des
Tierschutzgesetzes müssen in diesem Sinne nachgeführt werden.
Generell dürfen sich aus der Zucht keine Belastungen für die Tiere ergeben können,
insbesondere wenn in der Folge Schmerzen, Leiden, Schäden oder Angst beim Tier selbst oder
bei dessen Nachkommen vorhersehbar sind. Bei Mastgeflügel muss die maximale tägliche
Gewichtszunahme auf eine Prozent- oder Gewichtsgrenze begrenzt werden, die Schmerzen, Leiden
oder Schäden vermeidet. Dies schafft Rechtssicherheit und entlastet Veterinär*innen und
Gerichte von für den Vollzug aufwendigen Einzelfallentscheidungen über erkrankte
Einzeltiere.
In Anlehnung an den Paragrafen 8 des österreichischen Tierschutzgesetzes sollten ebenfalls
die Vermittlung, die Weitergabe, der Erwerb, der Import, die Ausstellung, die Bewerbung und
darüber hinaus der Handel mit Tieren, die zuchtbedingte Defekte aufweisen, verhindert
werden. Das Verbot muss auch den Import von Produkten umfassen, die von qualgezüchteten
Tieren stammen. Gleichzeitig mit einer Aktualisierung der gesetzlichen Regelungen wollen wir
sicherstellen, dass in den Ländern und Kommunen ein ausreichender Vollzug ermöglicht und
durchgeführt wird.
2. Wir begrüßen, dass der Handel in den Niederlanden und Dänemark in einem ersten Schritt
den Ausstieg zumindest von den schnellstwachsenden Masthühnern vollzieht. Wir wollen diesen
Weg über eine Regulierung auf EU-Ebene unterstützen und weiterführen, so über eine
Integration der Verhinderung von Qualzuchten beispielsweise bei Geflügel in die EU
Tierzucht-Verordnung 1012/2016.
3. Berlin als großer Konsumstandort hat eine besondere Verantwortung. Daher wollen wir im
Rahmen der Ernährungsstrategie sowie Bildungsarbeit dafür Sorge tragen, dass die Nachfrage
nach Produkten, die von Tieren mit Qualzuchtmerkmalen stammen, drastisch reduziert und über
die Folgen der leider aktuell noch bestehenden Qualzuchten und Qualhaltung von Tieren
transparent informiert wird.
4. Anstatt auf die Anpassung an industrielle Tierhaltung müssen sich die Forschung und auch
alle Zuchtbemühungen auf gesunde Zuchtlinien fokussieren, die den Tieren die Möglichkeit zum
Ausleben des artgemäßen Verhaltensspektrums gewähren. Wirtschaftliche Interessen dürfen
nicht als vernünftiger Grund für das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden an Tieren
gelten. Dieser beim Töten von männlichen Küken vom Bundesverwaltungsgericht festgelegte
Grundsatz muss im Tierschutzgesetz übernommen werden, u. a. damit Gerichte und
Veterinärämter vermehrt sicherstellen, dass dem Anspruch des Staatsziels Tierschutz im
Grundgesetz genügt wird (12).
Quellen
(1) BT-Drs. 14/8860, Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz), 23.4.2002.
https://dserver.bundestag.de/btd/14/088/1408860.pdf
(2) BMEL, Artikel zur Stellung des Tierschutzes im Grundgesetz, 2.9.2019:
https://www.bmel.de/DE/Tier/Tierschutz/_texte/StaatszielTierschutz.html
(3) Balluch, Martin (2021): Qualzucht- und Qualhaltungsaspekte bei Geflügel, in: Neussel,
Walter (Hrsg.): Verantwortbare Landwirtschaft statt Qualzucht und Qualhaltung, S. 73 ff.
(4) Gregori, Linda (2021): Qualzucht und Qualhaltung bei landwirtschaftlich genutzten
Tieren, in: Neussel, Walter (Hrsg.): Verantwortbare Landwirtschaft statt Qualzucht und
Qualhaltung, S. 47 ff.
(6) BAG Tierschutzpolitik: Gesundheitsschutz und Zoonosenprävention in der Tierhaltung,
22.5.2018. https://gruene-bag-
tierschutzpolitik.de/userspace/NW/bag_tierschutzpolitik/Dokumente/Beschluesse/2022-05-
08_Zoonosen-Praevention.pdf
(7) BR-Drs. 36/03, Entschließung des Bundesrates zur Qualzucht.
https://www.bundesrat.de/bv.html?id=0036-03
(8) Beschluss der Agrarministerkonferenz: Anwendung des §11b Tierschutzgesetz auf die Zucht
landwirtschaftlicher Nutztiere, 20.3.2015.
https://www.agrarministerkonferenz.de/documents/endgueltiges_ergebnisprotokoll_amk_bad_hombu-
rg_20-03-2015_2_1510304313.pdf
(9) Bundestierärztekammer: „Resolution, Zuchtziele in der Nutztierzucht unter
Tierschutzaspekten“, 18.4. 2016.
https://www.bundestieraerztekammer.de/btk/downloads/fachausschuesse/Resolution_Zuchtziele_in-
_der_Nutztierzucht_final.pdf
(10) Cirsovius, Thomas: Rechtsgutachten Tierschutzrechtliche Vorgaben im Zusammenhang mit
der Milchviehzucht (erstellt im Auftrag der Tierärztekammer Berlin), 25.5.2021.
https://djgt.de/wp-content/uploads/2022/06/22_04_07_Cirsovius_Gutachten-Milchviehzucht.pdf
(11) BMEL: „Gutachten zur Auslegung von Paragraf 11b des Tierschutzgesetzes“, 26.10.2005.
https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-paragraf11b.html
(12) Bülte, Jens / Felde, Barbara / Maisack, Christoph (Hrsg.) (2022): Reform des
Tierschutzrechts. Die Verwirklichung des Staatsziels Tierschutz de lege lata.
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748928478/reform-des-tierschutzrechts
Begründung
Im Berliner bündnisgrünen Wahlprogramm bekennen wir uns dazu, Massentierhaltung zu beenden. Neben einer deutlichen Reduktion der Anzahl der insgesamt gehaltenen Tiere und Erhebungen mittels tiergestützter Indikatoren sollen in der zukünftigen Haltungskennzeichnung eine Beschreibung und Definition von Elementen wie Platz, Einstreu und Auslauf erfolgen. Das Anpassen der Tiere unter Billigung von zuchtbedingten Defekten an ihre möglichst technisierte Umgebung macht jedoch die Massentierhaltung im gegenwärtigen Umfang erst möglich. Weil wir mit Heimtieren direkt umgehen, sind uns Qualzuchten bei diesen eher bekannt – Tiere, denen bereits aufgrund ihrer gewünschten Zuchtmerkmale häufig kein Leben ohne Schmerzen, Leiden oder Schäden möglich ist. Im Agrarbereich ist dieses Tierleid weniger sichtbar oder wird sogar als „Leistung“ verbrämt.
Im Koalitionsvertrag des Bundes ist vereinbart, dass sich die Entwicklung der Tierbestände an der Fläche orientieren soll und in Einklang mit den Zielen des Klima-, Gewässer- und Emissionsschutzes gebracht wird. Immer mehr Hühner, Puten und Enten sind betroffen: In den vergangenen Jahrzehnten ist der Pro-Kopf-Konsum von Geflügelfleisch in Deutschland gestiegen. Während im Jahr 1991 pro Person etwa 7,3 Kilogramm Geflügelfleisch konsumiert wurden, lag der Pro-Kopf-Verbrauch im Jahr 2022 bereits bei 12,7 Kilogramm. Damit hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch fast verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch insgesamt jedoch um knapp zwölf Kilogramm zurückgegangen (A). Auch der Verbrauch von Eiern steigt – aktuell sind es 230 Eier pro Kopf und Jahr, insbesondere über verarbeitete Produkte und überwiegend aus dem niedrigsten Standard der „Bodenhaltung“ stammend. (B).
Gerade Geflügelfleisch wird als typisches Billigfleisch vermarktet und liegt pro Kilo preislich unter Früchten oder Gemüse. Dies wird erreicht, indem Qualhaltung – maximal viele Tiere auf minimalem Raum – mit Qualzucht kombiniert wird, d. h. ein schnelles Wachstum mit hoher Konversionsrate von Nahrung in Fleischansatz. Die Last dieser Entwicklung tragen die Hühner, Puten und weiteres Geflügel. Sie sind leidensfähige Lebewesen mit einem im Freiland reichen Repertoire an Verhaltensweisen, die in der intensiven Haltung praktisch nicht ausgelebt werden können. Die Lebensqualität für Geflügel in der konventionellen Haltung ist am absoluten Minimum, um maximalen Profit zu gewährleisten (3, 4).
Der Koalitionsvertrag besagt, bestehende Lücken in der Nutztierhaltungsverordnung zu schließen und das Tierschutzgesetz zu verbessern – unter anderem dadurch , „Qualzucht“ zu konkretisieren. Diese Änderungen (vgl. 11) sind notwendig, denn Qualzuchten sind bereits seit Jahrzehnten verboten – eigentlich. Aber jede*r, der die Bilder von Geflügel aus industrieller Tierhaltung kennt oder weiß, wie schnellwachsende Masthybriden aussehen, sieht, dass das Tierschutzgesetz in der Praxis kaum eine Wirkung hat. Grundlegende Gutachten (10) sind veraltet oder betreffen hauptsächlich Heimtiere, und es gibt keine brauchbare Liste, die definiert, was bei welcher Tierart als Qualzucht-Merkmal gezählt werden muss. Erschwerend wirkt, wenn im Einzelfall bewiesen werden muss, dass Schmerzen, Leiden oder Schäden ursächlich und nachweislich auf die Zucht zurückzuführen sind – und nicht „Produktionskrankheiten“ oder Folgen der gängigen „Qualhaltung“ sind.
Dass die Nutzung der gängigen Hybriden wie z. B. Ross 308 oder Cobb 700 nicht schon längst als Qualzuchten im Sinne des Tierschutzgesetzes beendet wurde, zeigt, dass die gegenwärtigen Regelungen unzureichend sind. Den Hybriden ist das natürliche Sättigungsgefühl abgezüchtet worden. Sie nehmen pro Tag durchschnittlich etwa 70 Gramm Körpergewicht zu und erreichen im Alter von etwa einem Monat ein Schlachtgewicht von bis zu mehreren Kilogramm. Auf den Menschen übertragen bedeutet diese Wachstumsgeschwindigkeit, dass ein dreijähriges Kind bereits das Körpergewicht eines Erwachsenen hätte (12). Bei Masthybriden können die Gefäße und das Bindegewebe nicht mit dem schnellen Muskelwachstum mithalten. Bei Legehybriden kann der Nährstoffbedarf, z. B. von Kalzium, durch die hohe Legeleistung nicht über die Nahrungsaufnahme kompensiert werden, was sich auf die Knochenstruktur auswirkt.
Ein Teil der Tiere stirbt vorzeitig, meist an plötzlichem Herztod. Atemweginfekte sind häufig, so dass während der Mastperiode bis zu über eine Woche Antibiotika verabreicht werden müssen.Ein hoher Prozentsatz der Tiere leidet am Mastende unter Fußballenentzündungen, in noch höheren Teilen an Entzündungen der Fersenhöcker sowie ausgeprägten Gangstörungen, ebenso Femurkopfnekrose und anderen Gelenkentzündungen. Diese schmerzhaften Erkrankungen sind überwiegend durch die genetisch bedingte zu schnelle Gewichtszunahme der Tiere verursacht (C, D). Auch in den Großbetrieben der konventionellen Eiererzeugung werden ausschließlich sogenannte Legehybride von wenigen Erzeugern eingesetzt. Diese Hennen sind auf eine Legeleistung von bis zu 330 Eiern/Jahr gezüchtet – beim Ursprungshuhn, von dem die derzeitig gehaltenen Rassen abstammen, waren es 20 Eier. Die Tötung erfolgt meist nach einer Legeperiode, in einem Alter von nur etwas über einem Jahr. Häufige schmerzhafte Erkrankungen sind Salpingitis (Eileiterentzündung), Vorfall der Kloake, Bauchfellentzündung, Osteoporose mit ausgeprägten Gangstörungen und hoch schmerzhafte Brustbeinbrüche, oft sogar Mehrfachbrüche (E).
Quellen für die Begründung:
(C) Rösler, Beatrice (2016): Untersuchungen von konventionell gehaltenen Ross 308 Masthühnern in einer angereicherten Haltungsumwelt unter dem Aspekt der Tiergesundheit. Diss. Univ. München. https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19995/1/Roesler_Beatrice.pdf
(D) Knowles TG, Kestin SC, Haslam SM, Brown SN, Green LE, Butterworth A, et al. (2008): Leg Disorders in Broiler Chickens: Prevalence, Risk Factors and Prevention. PLoS ONE 3(2): e1545. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0001545
(E) Dänische Studie zu Legehennen „Painful fractures: Large eggs push small hens to the breaking point“ (2021): https://healthsciences.ku.dk/newsfaculty-news/2021/09/painful-fractures-large-eggs-push-small-hens-to-the-breaking-point/
Änderungsanträge
- V-5-016 (LAG Tierschutzpolitik (dort beschlossen am: 25.11.2023), Eingereicht)