Veranstaltung: | LDK am 04. Mai 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | weitere Anträge, die nicht auf dieser LDK behandelt werden |
Antragsteller*in: | Benjamin Budt (KV Berlin-Pankow) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 30.03.2024, 09:26 |
V-25: Verantwortung übernehmen - Verfassungsschutz reformieren!
Antragstext
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist seit jeher eine Partei, die für Bürger*innenrechte einsteht, denn
diese sind Teil der grünen DNA und bis heute allgegenwärtig in der Arbeit von Bündnisgrünen
in der ganzen Bundesrepublik. Aus diesem Grund sind wir Bündnisgrünen immer für
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Parlamentarismus eingetreten. Es reicht jedoch nicht
aus, wenn allein wir für diese Werte kämpfen. Stattdessen braucht es einen Konsens aller
Demokrat*innen und demokratischer Parteien, um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und
Verfassung zu schützen. Neben zivilgesellschaftlichem und parteilichem Engagement sind
staatliche Institutionen von absoluter Notwendigkeit, um unsere Verfassung und unsere
freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen. Unsere Demokratie muss von allen
Elementen der Gewaltenteilung vor den Verfassungsfeind*innen verteidigt werden: von den
Verfassungsgerichten der Länder, dem Bundesverfassungsgericht, den demokratischen Fraktionen
in den Parlamenten und natürlich auch der Exekutive.
Auf der Seite der Exekutive leistet der Verfassungsschutz einen wertvollen Beitrag, um unser
Land vor Extremist*innen zu schützen. Verfassungsschutz ist zum einen staatsbürgerliche
Pflicht, zum anderen ist er aber eben auch verfassungsrechtlich festgeschriebene
Institution. Ganz im Sinne des Trennungsgebots leistet der Verfassungsschutz wichtige Arbeit
im Gefahrenvorfeld und erkennt Verfassungsfeind*innen, bevor diese ihre antidemokratischen
Vorstellungen verwirklichen und unsere Gesellschaft konkret gefährden können. Er ermöglicht,
dass es zu keiner Konzentration von exekutiven und nachrichtendienstlichen Kompetenzen bei
einer einzigen Behörde kommt. Diese Kompetenzaufteilung macht eine getrennte, aber doch
ineinandergreifende Sicherheitsarchitektur möglich.
Dabei muss klar sein, dass die Aufgabe des Verfassungsschutzes wichtiger denn je ist. In der
heutigen Zeit haben Verfassungsfeinde Hochkonjunktur, sitzen mit Wähler*innenstimmen in
Parlamenten und äußern ihre demokratiefeindlichen, menschenverachtenden und autoritär-
faschistischen Fantasien immer offener. Über hundert Rechtsextremist*innen arbeiten jeden
Tag im Herzen unserer Demokratie daran, unsere plurale, offene und rechtsstaatliche
Gesellschaft von innen zu zerstören. Für uns bedeutet das, dass wir nicht einfach staatlich-
institutionelle Schutzmechanismen über Bord werfen können. Wir müssen mit allen
rechtsstaatlichen Mitteln der wehrhaften Demokratie kämpfen, um unsere diverse,
demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft zu verteidigen. Zu diesen Mitteln gehört
auch der Verfassungsschutz.
Umso schlimmer wiegt es daher, wenn ausgerechnet der Verfassungsschutz Vertrauen verspielt -
in der Politik und in der Bevölkerung. Zu oft ist es in der Vergangenheit passiert, unter
anderem beim NSU-Skandal, bei welchem auch der Berliner Verfassungsschutz im Verdacht steht,
2012 Akten geschreddert zu haben, die für die Aufklärung der NSU-Mordserie von Interesse
waren - also während die Aufarbeitung bereits auf Hochtouren lief. Aber auch das kollektive
Versagen rund um den Anschlag am Breitscheidplatz warf erneut Fragen zum „System
Verfassungsschutz“ und seinem Netzwerk an V-Leuten auf. Die geplante bundesgesetzliche
Regelung zu V-Personen, ist somit ein Schritt in die richtige Richtung. Letztentlich lastet
die „Causa Maaßen“ weiterhin schwer auf dem gesamten Komplex. Ein Mann, der heute vom
Verfassungsschutz beobachtet wird, war früher selbst einmal oberster “Verfassungsschützer”
Deutschlands. Das stellenweise Vermischen von Fehlern unterschiedlicher Behörden in der
öffentlichen Darstellung schadet dem Ansehen zusätzlich. Umso wichtiger ist daher die
Vertrauensoffensive des Verfassungsschutz - auf Bundes- wie auf Landesebene und die bereits
bestehende vielfältige demokratische und rechtsstaatliche Kontrolle. So unterliegt zum
Beispiel das Berliner Landesamt der Kontrolle durch den zuständigen Ausschuss im
Abgeordnetenhaus, den Berliner Rechnungshof, die G10-Kommission, die Berliner Beauftrage für
Datenschutz und Informationsfreiheit sowie der gerichtlichen Kontrolle. Denn ohne
Verfassungsschutz wird es nicht gehen, er muss sich aber ändern, um bleiben zu können -
transparenter, diverser und mit einem klaren Fokus auf Bürger*innenrechten. Dafür braucht es
eine kritische Überprüfung des bereits Bestehenden und eine zeitgemäße rechtliche
Fortentwicklung, damit verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden kann.
Verantwortung für unsere Demokratie zu übernehmen bedeutet das, was uns schützt, zu
schützen, zu stärken und somit, sich der schwierigen Aufgabe anzunehmen, durch sinnvolle und
ernstgemeinte Reformen einen funktionstüchtigen Verfassungsschutz zu schaffen, der seiner
angedachten Funktion gerecht wird. Die aktuelle, halbherzige Reform vom schwarz-roten Senat
ist dafür keineswegs ausreichend und beweist, dass der aktuelle Senat alleine entweder nicht
willens oder in der Lage ist, sich ernsthaft dieser Aufgabe anzunehmen und den
Herausforderungen vor denen der Verfassungsschutz steht, nicht gerecht wird. Es braucht
jetzt schnell einen funktionierenden Verfassungsschutz, um unsere Demokratie zu schützen.
Daher fordert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berlin vom Berliner Senat:
Eine konsequente Überprüfung und Anpassung des Verfassungsschutzgesetzes von Berlin
(VSG Berlin) angesichts der neuesten Entwicklungen in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts. Besondere Beachtung muss dabei das Urteil zum Bayerischen
Verfassungsschutzgesetz finden, das neue Verfahrensvoraussetzungen und
Berichtspflichten für nachrichtendienstliche Maßnahmen von besonderer Intensität
formuliert.
Den Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung entsprechend der
aktuellen Rechtsprechung gesetzlich klar, nach Vorbild des Verfassungsschutzgesetzes
von Nordrhein-Westfalen, auszugestalten, um klare Voraussetzungen für die
Rechtsanwendung zu schaffen und die Bürger*innenrechte besser vor rechtswidrigen
Eingriffen zu schützen.
Das Landesamt für Verfassungsschutz für die Herausforderungen des digitalen Zeitalters
aufzustellen und insbesondere die Kompetenzen in den Bereichen Cybercrime und
Aufklärung von Desinformationen zu stärken.
Die Erstellung einer Datengrundlage zur Mitarbeiter*innendiversität, sowie
anschließend die Entwicklung einer Diversitätsstrategie, insbesondere für Bereiche,
die mit Quellen arbeiten.
Das System der Verbindungspersonen (sog. V-Personen) mit Sorgfalt ergebnisoffen
hinsichtlich seiner Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Dabei ist besonders
ihr Mehrwert im Vergleich zu Undercover Agents (UCAs) und Informant*innen, als
ähnliche Instrumente der nachrichtendienstlichen Arbeit zu bewerten.
Begründung
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz von 2022 hat Auswirkung auf die ganze Bundesrepublik, denn auch für die Landesverfassungsschutzgesetze wurden durch das Gericht neue Anforderungen gestellt. Die Rechtslage muss angepasst werden, um zukünftig rechtsstaatliches Handeln der Behörden zu ermöglichen. Gleichzeitig schützt die Anpassung Bürger*innenrechte, da durch das Urteil klare, erhöhte Anforderungen für besonders eingriffsintensive Maßnahmen der Behörden formuliert wurden.
Der Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung im Rahmen nachrichtendienstlicher Maßnahmen wurde durch das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont. Die besonderen rechtlichen Anforderungen können gesetzlich klar ausformuliert werden, um Rechtsklarheit für Anwender*innen und Betroffene zu schaffen. Das VSG NRW kann dabei Vorbild sein, was die Struktur einer solchen Regel anbelangt.
Eine effektive Aufstellung des Verfassungsschutzes ist essentiell, um Desinformationen und Cybercrime zu bekämpfen, die die Grundfesten der Demokratie untergraben können. In einer Zeit, in der Informationen und digitale Kommunikation zentral für die öffentliche Meinungsbildung sind, stellen gezielte Desinformationskampagnen und cyberkriminelle Aktivitäten eine direkte Bedrohung für die Integrität demokratischer Prozesse dar. Ein starker Verfassungsschutz trägt dazu bei, diese Bedrohungen zu identifizieren und abzuwehren, um so die demokratischen Werte, die freie Meinungsäußerung und die Sicherheit der Bürger*innen zu gewährleisten.
Diversität ist kein Selbstzweck, sondern spielt eine wesentliche Rolle bei der Stärkung und Legitimation staatlichen Verwaltungshandelns. Durch die Einbeziehung einer Vielfalt von Lebensrealitäten innerhalb der Behörden wird das staatliche Handeln gerechter. Dieser Mehrwert von Diversität ist auch im nachrichtendienstlichen Sektor von unschätzbarem Vorteil, wo die Vielfalt der Belegschaft eine entscheidende Ressource darstellt. Bei der Informationsgewinnung durch Interaktion mit Menschen ermöglicht ein divers aufgestelltes Team einen breiteren Zugang zu und ein tiefergehendes Verständnis für unterschiedliche Lebensrealitäten. Diese Vielfalt innerhalb des Teams fördert eine effektivere Zusammenarbeit mit Personen aus verschiedenen sozialen Milieus und kann zu einer umfangreicheren Informationsbeschaffung führen, als dies mit einem homogenen Team möglich wäre. Sie ermöglicht es, mit einem breiteren Spektrum an Individuen und Gruppen so zu interagieren, dass Vertrauen aufgebaut und eine effektive Kommunikation gefördert wird. Zusammenfassend verbessert Diversität die Effizienz und Wirksamkeit von Behörden, indem sie eine realitätsnahe Abbildung der gesellschaftlichen Vielschichtigkeit ermöglicht.
Es muss klar sein, dass eine Überprüfung die Behörden vor große Schwierigkeiten stellen kann und sie den Kernbereich nachrichtendienstlicher Arbeit und Kompetenzen berührt. Eine derartige Überprüfung ist aufgrund der Geheimhaltungsbedürftigkeit kein einfaches Unterfangen und dennoch ersetzt ein einfaches Berufen auf nachrichtendienstliche Praxis und pauschale Geheimshaltungsbedürftigkeit nicht die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung des Systems angesichts der mit dem System selbst verbundenen Grundrechtsrelevanz. Besonders das System der Vertrauenspersonen (V-Personen) beim Verfassungsschutz scheint bisher nicht systematisch hinsichtlich seiner Wirksamkeit und Angemessenheit evaluiert worden zu sein, zumindest sind keine derartigen Überprüfungen öffentlich bekannt. Es ist zudem zu bedenken, dass V-Personen oft nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus materiellen Motiven mit den Verfassungsschutzbehörden kooperieren und diese Zusammenarbeit regelmäßig zu weiteren Problemen führt, wie das erste NPD-Verbotsverfahren deutlich machte. Die komplexe rechtliche Situation verstärkt diese Problematik noch. Es gibt daher ausreichend Anlass, das V-Personen-System kritisch zu hinterfragen. Gerade im Vergleich zu den äußerst aufwendigen, aber mit potentiell äußerst hohem Wirkungsgrad verbundenen UCAs und den anderen, weniger ressourcenintensiven Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung ist das System an V-Personen kritisch zu überprüfen.