| Veranstaltung: | LDK am 22. November 2025 |
|---|---|
| Tagesordnungspunkt: | 11. Verschiedenes |
| Antragsteller*in: | Landesvorstand GRÜNE JUGEND Berlin (dort beschlossen am: 17.11.2025) |
| Status: | Eingereicht |
| Angelegt: | 17.11.2025, 22:22 |
D-1: Dringlichkeitsantrag: Wehrpflicht? Nein, danke! - Freiwilligendienste strukturell stärken
Antragstext
Spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigt sich, dass
Frieden und Freiheit in Europa keine Selbstverständlichkeiten mehr sind. Auch Deutschland
steht zunehmend im Fokus hybrider Bedrohungen: von Cyberangriffen über Desinformation bis
hin zu Versuchen gezielter gesellschaftlicher Destabilisierung. Wir nehmen diese veränderte
sicherheitspolitische Lage ernst, ebenso wie die damit verbundenen Sorgen und Ängste der
Bevölkerung.
Diese Realität markiert eine echte sicherheitspolitische Zeitenwende, eine Zäsur, die von
uns verlangt, Wehrhaftigkeit und Resilienz neu zu denken. Doch eine Zeitenwende bedeutet
nicht automatisch die Rückkehr zu alten und überholten Konzepten, wie die Bundesregierung
sie plant.
Am 13. November 2025 einigte sich die Bundesregierung aus Union und SPD auf das sogenannte
Wehrdienstmodernisierungsgesetz (WDModG). Angelehnt an das Schwedische Modell soll zunächst
auf die Förderung von Freiwilligkeit gesetzt werden. Verpflichtend ist zunächst nur das
Ausfüllen eines Fragebogens und die Musterung aller jungen Männer, die 2008 oder später
geboren wurden. In Berlin würde das im kommenden Jahr 16.000 Jugendliche betreffen. Melden
sich dennoch nicht genug Personen freiwillig, sieht der Gesetzentwurf eine
Bedarfswehrpflicht vor, die vom Bundestag beschlossen werden kann. Das Verfahren dafür steht
noch nicht vollständig fest, aber auch Zufallsverfahren wie das Losverfahren werden
weiterhin debattiert.
Als Bündnis 90/Die Grünen Berlin lehnen wir eine Wiedereinführung der Wehrpflicht oder die
Einführung anderweitiger Pflichtdienste entschieden ab. Ein verpflichtendes Dienstjahr, wie
es von konservativen Kreisen gefordert wird, ist ein gesellschaftspolitischer Rückschritt
und steht in klarem Widerspruch zu unseren Grundwerten von Selbstbestimmung und Freiheit.
Stattdessen setzen wir darauf, bestehende Angebote des freiwilligen, gesellschaftlichen
Engagements zu stärken, bestehende Hürden abzubauen und Strukturen, die echte Beteiligung
und Zusammenhalt ermöglichen, zu stärken.
Schluss mit Politik über die Köpfe junger Menschen hinweg
In der öffentlichen Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht geht die Perspektive
junger Menschen oftmals unter. Gleichzeitig zeigen Umfragen seit Jahren ein eindeutiges
Bild: Diejenigen, die am Ende einen Pflichtdienst ableisten müssten, lehnen ihn klar ab.
Mehr als 60 % der unter 30-Jährigen sprechen sich regelmäßig gegen eine Wehrpflicht aus und
laut einer von Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie würde eine Mehrheit der 16- bis 25-
Jährigen den Dienst an der Waffe sogar verweigern. Diese Zahlen verdeutlichen: Junge
Menschen wollen selbst bestimmen, wie und wo sie Verantwortung übernehmen.
Dabei ist es gerade diese junge Generation, die in den vergangenen Jahren bereits enorme
Lasten getragen hat. Während der Corona-Pandemie hat sie sich zurückgenommen, zentrale
Erfahrungen ihrer Jugend verpasst und ältere sowie vulnerable Gruppen geschützt. Die
negativen Auswirkungen dieser Zeit in den Bereichen Bildung und mentaler Gesundheit wurden
politisch nie aufgefangen. Heute ringt sie mit hohen Mieten, gestiegenen Preisen und
Unsicherheit in Ausbildung, Studium und Beruf und wird die dramatischsten Folgen der
Klimakrise erleben. Hinzu kommt der jahrzehntelange Investitionsstau in Bildung,
Infrastruktur und Daseinsvorsorge, dessen Konsequenzen junge Menschen bereits heute ausbaden
müssen und die das Vertrauen in Politik und staatliche Institutionen seit Jahren schwächen.
Vor diesem Hintergrund einen militärischen oder gesellschaftlichen Pflichtdienst
einzufordern bedeutet, eine Generation in die Verantwortung für die Verteidigungsfähigkeit
Deutschlands zu ziehen, der die Politik selbst über Jahre hinweg elementare
gesellschaftliche Verantwortung schuldig geblieben ist. Von jungen Menschen zu verlangen,
die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte auszubügeln und die gesellschaftliche
Verantwortung der Verteidigungsfähigkeit zu schultern, während ihre eigenen Bedürfnisse,
Chancen und Lebensrealitäten politisch zu lange vernachlässigt wurden, geht gegen den
Grundwert der Generationengerechtigkeit, für den wir als Partei wie keine andere stehen.
Für uns steht fest: Junge Menschen sind nicht bloß eine Ressource, auf die der Staat im
Krisenfall zurückgreifen kann, sondern aktive Mitgestalter*innen unserer demokratischen
Gesellschaft. Sie brauchen Räume, in denen sie selbstbestimmt handeln können und eine
Politik, die ihnen zutraut, Verantwortung freiwillig zu übernehmen. Was sie nicht brauchen,
sind staatliche Pflichtdienste, die ihre Freiheit einschränken und ihre Perspektiven
ignorieren.
Strukturelle Probleme in der Bundeswehr anerkennen und beheben
Strukturell verfügt die Bundeswehr derzeit weder über die notwendige Infrastruktur noch über
ausreichende personelle Kapazitäten, um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht überhaupt
sinnvoll umsetzen zu können. Es mangelt an Ausbilder*innen, an Material, an Unterkünften, an
modernen Übungsplätzen und an flexiblen Organisationsstrukturen. Hinzu kommen massive
Probleme im Beschaffungswesen.
Gleichzeitig bestehen tiefgehende institutionelle Problemen: Immer wieder rücken
rechtsextreme Netzwerke in der Bundeswehr, insbesondere im KSK, in den Fokus. Berichte über
Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zeigen, dass die Bundeswehr strukturell noch weit
von einem inklusiven, diskriminierungsfreien Umfeld entfernt ist. Anstatt junge Menschen in
solche Strukturen zu zwingen, braucht es konsequente Aufarbeitung und transparente
Kontrollmechanismen. Darüber hinaus braucht es eine umfassende und verpflichtende
Weiterbildung aller Angehörigen der Bundeswehr zu Diskriminierung, Vielfalt und
demokratischer Kultur. Wer in staatlicher Verantwortung steht und mit Waffen ausgebildet
wird, muss für Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und jede andere Form
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sensibilisiert werden.
Dass die Bundeswehr für viele junge Menschen kein attraktives Arbeitsumfeld darstellt, zeigt
sich auch in den hohen Abbruchquoten von rund 25 % in den ersten Dienstmonaten. Diese Quote
ist ein Symptom systemischer Probleme, nicht fehlender „Verantwortungsbereitschaft“ einer
Generation.
Junge Menschen sind keine Lückenfüller: soziale Infrastruktur stärken
Der Fachkräftemangel im sozialen Sektor ist seit Jahren ein zunehmendes Problem und wird
sich in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen. Besonders in der Pflege, in Kitas, in
der Jugendhilfe und in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen fehlen qualifizierte
Fachkräfte. Diese Versorgungslücken entstehen jedoch nicht, weil es zu wenige junge Menschen
gibt, die grundsätzlich bereit wären, im sozialen Bereich zu arbeiten, sondern weil der
Staat seit Jahren darin versagt, verlässliche und attraktive Rahmenbedingungen für
Beschäftigte im sozialen Bereich zu schaffen.
Ein Pflichtdienst adressiert weder die Ursachen des Fachkräftemangels noch die strukturellen
Schwächen des sozialen Sektors. Der damit verbundene Mehraufwand für Supervision,
Wissensvermittlung und organisatorische Betreuung würde bestehende Engpässe eher
verschärfen, als sie zu beheben. Statt tiefgreifenden Lösungsansätzen durch zum Beispiel
Investitionen in Bildung und Ausbildung werden hier Scheinlösungen mit jungen Menschen als
Leidtragenden vorgeschlagen. Auch große Wohlfahrtsverbände und Träger von
Freiwilligendiensten wie der Paritätische Gesamtverband oder die Diakonie haben sich zuletzt
entschlossen gegen eine Dienstpflicht geäußert und weisen auf die mit einer Dienstpflicht
einhergehenden Grundrechtsverletzungen sowie den immensen organisatorischen Aufwand und die
Kosten hin. Außerdem kritisieren sie, dass soziale Berufe durch so einen Eingriff abgewertet
werden.
Freiwilligendienste strukturell und langrfristig stärken
Bereits heute engagieren sich bis zu 100.000 Menschen jedes Jahr im Rahmen von
Freiwilligendiensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), dem Bundesfreiwilligendienst
(BFD) oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ). Zumeist sind es junge Menschen, die
sich nach ihrer Schulzeit für ein Jahr des gesellschaftlichen Engagements entscheiden und
Tag für Tag Verantwortung übernehmen. Sie unterstützen Pflegekräfte in Altenheimen,
begleiten Kinder und Jugendliche in Schulen und Kitas, helfen Menschen mit Behinderung im
Alltag oder setzen sich für den Klima- und Naturschutz ein.
Mit ihrem Einsatz stärken sie nicht nur soziale Einrichtungen und gemeinnützige
Organisationen, sondern sammeln auch selbst wertvolle und nachhaltig-prägende Erfahrungen.
Viele entdecken durch ihren Freiwilligendienst neue berufliche Perspektiven, lernen ihre
eigenen Fähigkeiten besser kennen und entwickeln ein starkes Bewusstsein für
gesellschaftliche Zusammenhänge. Nicht selten entstehen aus diesem Engagement langfristige
berufliche oder ehrenamtliche Bindungen, die weit über das eigentliche Dienstjahr
hinausreichen.
Freiwilligendienste zeigen: junge Menschen sind bereit, sich einzubringen, gesellschaftliche
Verantwortung zu übernehmen und sich zu engagieren. Politik muss diese Bereitschaft stärken,
statt auf Zwang und Bevormundung zu setzen. Statt Debatten über ein Pflichtjahr braucht es
verlässliche finanzielle und strukturelle Rahmenbedingungen, bessere Anerkennung von
Leistungen und niedrige Zugangshürden für alle Menschen, die sich bereits heute freiwillig
engagieren wollen.
Freiwilligendienste stehen seit Jahren unter Druck. Einsatzstellen kämpfen um eine
ausreichende Finanzierung. Im Bundeshaushalt 2025 sind Kürzungen bei Freiwilligendiensten
von rund 40 Millionen € vorgesehen, was etwa 20% weniger im Vergleich zum Vorjahr sind. Und
für die Freiwilligen reicht das Taschengeld bei langem nicht aus um sich das Leben zu
finanzieren - schon gar nicht in einer Stadt wie Berlin!
Angesichts dieser Umstände braucht es eine langfristige Absicherung der Träger, die
Freiwilligendienste organisieren und begleiten: verlässliche Finanzierung, hochwertige
pädagogische Betreuung und klare Qualitätsstandards. Nur so können Freiwilligendienste ihrer
gesellschaftlichen Bedeutung gerecht werden und jungen Menschen echte Chancen eröffnen.
Deshalb fordern wir als Bündnis 90/Die Grünen Berlin:
Einen Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst
Jede Person, die sich gesellschaftlich engagieren möchte, soll ein gesetzlich
verankertes Recht auf einen Freiwilligendienst haben und dies unabhängig vom
Alter, Gender oder finanziellen Hintergrund.
Finanzielle Absicherung von Freiwilligendiensten
Wir fordern eine Anhebung des Taschengeldes für Freiwillige, die sich am BAföG-
Höchstsatz orientiert und aus dem Bundeshaushalt finanziert wird. So kann
Chancengleichheit erhöht werden und sozialer Ungleichheit entgegengewirkt
werden.
Kostenloser Zugang zum ÖPNV für alle Freiwilligen
Wir fordern eine kostenfreie Bereitstellung des Deutschlandtickets für
Freiwillige, um die finanzielle Belastung zu reduzieren. Des Weiteren müssen
Freiwillige Anspruch auf die gleichen Vergünstigungen wie Senior*innen oder
Studierende erhalten.
Sichtbarkeit von Freiwilligendiensten erhöhen
Wir fordern eine bundesweite Informationskampagne, mit einem
Motivationsschreiben des/der Bundespräsidenten*in an alle Schulabgänger*innen.
Damit soll Menschen geholfen werden, einen Überblick über die Vielfalt und die
Möglichkeiten bestehender Programme zu erhalten.
Vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Gesamtlage, der strukturellen Defizite in der
Bundeswehr und der bestehenden Engpässe im sozialen Bereich ist klar: Pflichtdienste oder
die Wiedereinführung der Wehrpflicht sind weder gerecht noch wirksam. Junge Menschen sollen
nicht Zwangsdienste leisten, um politische Versäumnisse auszugleichen, sondern Räume
erhalten, in denen sie freiwillig Verantwortung übernehmen können. Bündnis 90/Die Grünen
Berlin stehen deshalb für eine konsequente Stärkung freiwilliger Dienste, die Engagement,
Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und wertschätzen.
Begründung
Die Einigung der Bundesregierung am 13. November 2025 ist erst nach Ablauf der Antragsfrist und der Änderungsantragsfrist Zustande gekommen. Als Partei und als Landesverband brauchen wir daher umgehend eine klare Positionierung in dieser Frage, um den Menschen in dieser Stadt, insbesondere den jungen Menschen, Orientierung und politische Verlässlichkeit zu bieten.
Die geplanten Regelungen greifen tief in die Selbstbestimmung junger Menschen ein und sind mit unseren Grundwerten von Freiheit, Selbstbestimmung und Generationengerechtigkeit unvereinbar. Gleichzeitig adressieren sie weder die tatsächlichen Herausforderungen für die Bundeswehr noch die strukturellen Defizite im sozialen Bereich. Statt junge Menschen in Pflichtdienste zu zwingen, sollten wir ihre Bereitschaft zu freiwilligem gesellschaftlichem Engagement stärken und ihnen echte Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Dies kann nur mit struktureller Förderung von bestehenden Programmen und Angeboten geschehen.
Quellen:
Änderungsanträge
- D-1-020 (Daniel Eliasson (KV Berlin-Steglitz/Zehlendorf), Eingereicht)
- D-1-020-2 (Hanna Steinmüller (KV Berlin-Mitte), Eingereicht)
- D-1-020-3 (Peter Schaar (KV Berlin-Charlottenburg/Wilmersdorf), Eingereicht)
- D-1-067 (Daniel Eliasson (KV Berlin-Steglitz/Zehlendorf), Eingereicht)
- D-1-146 (Peter Schaar (KV Berlin-Charlottenburg/Wilmersdorf), Eingereicht)