Veranstaltung: | Frauen*Vollversammlung 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 2 Leitantrag |
Antragsteller*in: | Landesvorstand (dort beschlossen am: 20.08.2020) |
Status: | Eingereicht |
Beschlossen am: | 20.08.2020 |
Eingereicht: | 01.09.2020, 16:25 |
L-01: Nein zum Backlash! Was auf Corona folgen muss
Antragstext
Die Coronakrise hat unsere Gesellschaft als Ganzes getroffen und in so manchen Grundfesten
erschüttert. Nahezu von heute auf morgen fuhren die Menschen ihre sozialen Kontakte zurück.
Urlaubsreisen und Familientreffen fielen aus, Fußballstadien wurden für die Öffentlichkeit
geschlossen. Clubs, Konzertsäle und Theaterbühnen, Schulen und Kitas – alles geschlossen.
Für viele Arbeitgeber*innen war Home Office plötzlich das Gebot der Stunde. Der
Bundesfinanzminister kippte das Mantra der schwarzen Null und die Europäische Union nahm
erstmals gemeinsam Schulden auf.
In einem aber hat sich unsere Gesellschaft als stabil erwiesen. Den Frauen in diesem Land
wurde die klassische, fast schon überholt geglaubte Rolle der Mutter und Kümmerin
zugewiesen. Gleichzeitig wurde das, was gemeinhin als Privatleben gilt, praktisch unsichtbar
gemacht: Das bisschen Kinderbetreuung? Das werden die Frauen schon richten. Arbeiten können
sie ja nebenbei oder wenn die Kinder im Bett sind! Ja, die Jobs der Frauen sind
systemrelevant. Aber sie deshalb besser bezahlen? Wir müssen doch ganze Branchen retten!
Häusliche Gewalt? Wieso sollte das jetzt Thema sein?
Wir stellen fest: Frauen waren und sind von der Coronakrise in besonderer Weise, aber
durchaus unterschiedlich betroffen. Zwar sind viele ihrer Berufe nun offiziell
systemrelevant, sie bleiben aber schlecht bezahlt. Ihr größerer Anteil in menschennahen
Berufen – zum Beispiel als Verkäuferin, Sprechstundenhilfe oder als Krankenpflegerin – führt
dazu, dass sie deutlich häufiger an Covid-19 erkranken als Männer. Das Ausmaß der häuslichen
Gewalt gegenüber Frauen (und ihren Kindern) ist in der Krise und insbesondere während des
Lockdowns deutlich gestiegen. Und hatten Frauen schon vor der Coronakrise einen größeren
Teil der Care-Arbeit zu leisten, so hat sich dieses Ungleichgewicht während der Krise noch
verstärkt.
Diese Entwicklungen sind nicht unvorhersehbar aufgetreten. Sie lassen vielmehr einen
klareren Blick auf die schon lange bekannten strukturellen Probleme zu. Wenn wir Antworten
auf diese Ungerechtigkeiten finden wollen, dürfen wir nicht nur die akute Krise kritisch
betrachten. Natürlich müssen wir daraus Schlüsse für die Möglichkeit einer zweiten Welle
ziehen und dafür Sorge tragen, dass Frauen nicht erneut die Verliererinnen der Krise werden.
Aber wir müssen die Strukturen grundlegend ändern – über die Krise hinaus. Die Coronakrise
zeigt uns nicht nur überdeutlich, wo die Sollbruchstellen unserer Gesellschaft liegen – sie
mahnt uns auch zur Dringlichkeit, strukturelle Diskriminierungen zielgerichtet zu bekämpfen.
Politik in Zeiten der Pandemie oder: Die Pflicht zur Gender-Brille
Was viele von uns im Jahr 2020 nicht für möglich gehalten hätten, ist im Zuge der Corona-
Pandemie überraschend reibungslos geschehen. Kaum war die Krise da, erklärten uns
überwiegend Männer die Welt. Überall traten sie öffentlichkeitswirksam als Experten und
Krisenmanager in Erscheinung. Und im engsten Krisenstab der Kanzlerin saß zwar die
Verteidigungsministerin, nicht aber die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Der Blick auf Frauen und ihre unterschiedlichen Lebenslagen: In der Hochphase der
Coronakrise fehlte er nahezu komplett. Die Folge: Bei akuten Entscheidungen wurden Frauen
und die Auswirkungen dieser Entscheidungen auf Frauen nicht berücksichtigt. Das Risiko der
häuslichen Gewalt wurde ebenso ausgeblendet wie die Frage des Zugangs zur
Schwangerschaftskonfliktberatung. Schulen und Kitas wurden monatelang fast komplett
geschlossen, Care- und Bildungsarbeit weitgehend privatisiert und damit stillschweigend
überwiegend Frauen aufgebürdet. Frauen, die öffentlich einen finanziellen Ausgleich für ihre
teils existenzbedrohenden Einkommensverluste forderten, erlebten einen wahren Shitstorm.
Diese Erfahrung muss uns eine Lehre sein. Denn auch wenn wir die Leistung einzelner
männlicher Entscheidungsträger und Experten schätzen und dankbar für ihren Einsatz sind: Ein
derart männerdominiertes und geschlechterblindes Krisenmanagement, das uns
gleichstellungspolitisch um Jahrzehnte zurückwirft, darf sich nicht wiederholen. Für eine
mögliche zweite oder gar dritte Welle müssen wir sicherstellen, dass Frauen an den
relevanten Entscheidungen angemessen beteiligt werden – als Politikerinnen, als
Wissenschaftlerinnen, als Vertreterinnen klassisch weiblicher Berufsbranchen sowie der
einschlägigen Hilfe- und Beratungsstrukturen. Denn zukünftiges Krisenmanagement muss
zwingend die – durchaus unterschiedlichen – Perspektiven und Lebenslagen von Frauen
berücksichtigen. Damit Frauen nicht erneut Verliererinnen der Krise werden.
Hier ist zunächst die Bundesregierung gefragt. Denn auch wenn zentrale Bereiche wie
Gesundheit und Bildung am Ende Ländersache sind: Der Bund kann Leitlinien vorgeben und
Empfehlungen aussprechen. Er kann Prioritäten neu setzen. Und er kann mit gutem Beispiel
vorangehen. Für den weiteren Pandemieverlauf fordern wir paritätisch besetzte Krisenstäbe,
den Einbezug vielfältiger Expertisen und Stimmen und einen knallharten
Geschlechtergerechtigkeitscheck: Nur wenn Frauen von Hilfemaßnahmen gleichermaßen
profitieren wie alle anderen, werden diese Hilfemaßnahmen auch finanziert.
Kein Pandemieplan ohne Gewaltschutzkonzept und verlässliche Beratungsangebote
Häusliche Gewalt ist in Berlin während der ersten Coronawelle um circa 30 Prozent
angestiegen. Ärztinnen berichten nicht nur von höheren Fallzahlen, sondern auch von
zunehmender Schwere der Verletzungen. Betroffen sind in erste Linie Frauen und Kinder. Damit
bestätigt sich, was Expert*innen von Beginn an befürchtet hatten: Wenn Menschen in zu
kleinen Wohnungen zu lange zu Hause sind, wenn Existenzängste auftreten oder zunehmen: Dann
steigt das Aggressionspotenzial. Hinzu kommt, dass eine mögliche soziale Kontrolle durch
außerhäusliche Kontakte weitgehend wegfiel und professionelle Hilfestrukturen nur
eingeschränkt zugänglich waren. Unter diesen Bedingungen blieben betroffene Frauen,
insbesondere Frauen mit Behinderung und ältere Frauen, weitgehend sich selbst überlassen.
Um Frauen und Kinder während einer zweiten Welle mit Kontaktbeschränkungen besser vor
häuslicher Gewalt zu schützen, müssen wir Gewaltschutz als essentiellen Teil in den
Pandemieplänen verankern. Konkret heißt das: Die Hilfestrukturen müssen kurzfristig mit
zusätzlichen finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Nur so können sie professionell auf
steigende Fallzahlen reagieren; nur so können sie wegbrechende physische Anlaufstellen durch
telefonische und digitale Informations- und Beratungsangebote auffangen. Gleichzeitig müssen
die Menschen, die in den Schutz- und Beratungsstrukturen arbeiten, als systemrelevant
eingestuft werden. Kampagnen, die einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit dienen sollen,
müssen weitgehend vorbereitet sein, so dass sie in Zeiten der Pandemie kurzfristig angepasst
und umgesetzt werden können.
Generell, aber eben auch in Zeiten einer Pandemie müssen Gewaltschutzkonzepte die
vielfältigen Lebenslagen von Frauen und Mädchen berücksichtigen. Frauen und Mädchen mit
Behinderung gehören schon in normalen Zeiten zu einer besonders vulnerablen Gruppe. Das
Gleiche gilt für Frauen und Mädchen in eng bewohnten Geflüchtetenunterkünften. Und auch für
lesbische, bi-, trans- und intersexuelle Frauen steigt in Krisenzeiten das Risiko für
Diskriminierung und Gewalt. Junge Frauen im Coming-Out sind zum Beispiel auf familiäre
Kontexte zurückgeworfen, die sie an ihren Lebensentscheidungen hindern wollen. Hier braucht
es jeweils konkrete, direkte und verstärkte Hilfs- und Beratungsangebote wie zum Beispiel
flächendeckende Besuchsdienste für ältere Frauen und Frauen mit Behinderung, dezentrale
Unterbringungsmöglichkeiten für geflüchtete Frauen oder zusätzliche Zufluchtswohnungen für
lesbische, bi-, trans- und intersexuelle Frauen. Telefonische Informations-, Beratungs- und
Unterstützungsangebote sind ebenso notwendig wie digitale.
Letzteres gilt für alle Beratungsangebote wie beispielsweise psychiatrische Vor- und
Nachsorge und im Besonderen auch für die Schwangerschaftskonfliktberatung. Gerade hier, wo
Frauen nicht wochenlang auf einen Termin warten können, muss gewährleistet sein, dass
Beratung schnell stattfinden kann. Und wenn Frauen sich für den Abbruch einer
Schwangerschaft entscheiden, muss sichergestellt sein, dass dieser schnellstmöglich
vorgenommen werden kann. Auch deshalb fordern wir, dass der medikamentöse Abbruch zu Hause
erleichtert wird.
Einkommensverluste abfedern: Corona-Elterngeld und -Pflegegeld
Sollte es sich nicht vermeiden lassen, dass Schulen und/oder Kitas erneut zumindest
teilweise geschlossen werden müssen, braucht es ein besseres Konzept als während der ersten
Coronawelle. Denn wenn Schulen und Kitas schließen, übernehmen in der Regel die Frauen die
Betreuung der Kinder. Das hat vor allem finanzielle Gründe, die strukturell geändert werden
müssen (siehe unten). Da diese Änderungen aber nicht von heute auf morgen wirken werden,
müssen wir insbesondere die konkrete Situation von Frauen in der Krise in den Blick nehmen.
Wir müssen also den akuten Wegfall ihrer Lohnarbeit ausgleichen. Dazu braucht es zum einen
ein echtes Corona-Elterngeld, das Eltern beantragen können, deren Kinder das 14. Lebensjahr
noch nicht vollendet haben, für Familien mit Kindern mit Behinderung bis zur Vollendung des
18. Lebensjahrs. Das Coronaelterngeld soll im Umfang grundsätzlich dem üblichen Elterngeld
entsprechen (67 Prozent des wegfallenden Netto-Einkommens bis maximal 1800 Euro), allerdings
durch eine Härtefallregelung ergänzt, so dass Familien, bei denen diese 67 Prozent bedeuten
würden, dass sie unter das Existenzminimum fallen, auch über die Leistung Coronaelterngeld
mehr gezahlt werden kann, ohne dass ALG II beantragt werden muss. Diese Elterngeld soll für
die gesamte Dauer des notwendigen Wegfalls der Erwerbsarbeit gezahlt werden. Wir wollen auch
in der Krise die partnerschaftliche Aufteilung von Carearbeit fördern, deshalb soll das
Coronaelterngeld auch einen Partnerschaftsbonus enthalten: Wenn beide Eltern einen Teil der
Carearbeit übernehmen, erhöht sich die Leistung auf 75 Prozent des wegfallenden
Nettoeinkommens. Da Alleinerziehende die zusätzlichen Kosten, die durch zu Hause bleibende
Kinder entstehen (wie beispielsweise Mittagessen, das es sonst in Kita oder Schule gegeben
hätte), in der Regel allein tragen müssen, weil die Unterhaltszahlungen nicht angepasst
werden, bekommen auch sie 75 Prozent ihres Nettoeinkommens.
Analog zum Coronaelterngeld wollen wir auch ein Coronapflegegeld für pflegende Angehörige,
wenn die professionelle Pflegeunterstützung nicht aufrechterhalten werden kann und somit
Lohn wegfällt.
Das Coronaelterngeld kann auch von Eltern beantragt werden, die theoretisch im Homeoffice
arbeiten könnten. Damit füllen wir die Lücke, die das Infektionsschutzgesetz lässt und das
Lohnfortzahlungen nur für Menschen vorsieht, die nicht von zu Hause arbeiten können. Denn
die Erfahrungen der ersten Welle haben gezeigt: Homeoffice und Kinderbetreuung geht nicht
zusammen. Kinder haben ein Recht auf eine gute Betreuung und Förderung, sie haben das Recht,
dass sich jemand ihnen zuwendet und ihre Bedürfnisse ernst nimmt – gerade mit kleinen
Kindern ist das nicht mit dem Homeoffice zu vereinbaren. Aber auch wenn ältere Kinder im
Haushalt leben, denen Eltern bei den Schulaufgaben helfen sollen, ist dies nicht zu leisten.
Wir erwarten für eine zweite Welle jedoch auch, dass Kinder, die schulpflichtig sind, zu
Hause nicht mehr von ihren Eltern beschult werden müssen, sondern dass ein echter
Fernunterricht stattfindet, also dass Lehrer*innen die Schüler*innen zu Hause anleiten und
begleiten. Dazu braucht es sowohl die notwendigen Kompetenzen bei den Lehrkräften und den
Schüler*innen als auch die notwendigen Voraussetzungen wie z.B. technische Ausstattung,
Internetverbindung und einen ruhigen Platz zum Lernen. Die Tablets, die an Berliner
Schüler*innen ausgegeben wurden, waren dabei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es fehlt
nach wie vor ein Konzept, das Fern- und Präsenzunterricht vernünftig verbindet. Hier sind
die Sommerferien verstrichen, ohne wirklich genutzt zu werden. Lehrkräfte hätten
fortgebildet und Infrastruktur geschaffen werden müssen. Dies den Schulen und Familien
allein zu überlassen, kann nicht funktionieren. Hier muss die zuständige Senatsverwaltung
dringend nachbessern. Darüber hinaus fordern wir effiziente und langfristig ausgelegte
Hygienekonzepte, die Lehrer*innen, Erzieher*innen sowie Kinder und Schüler*innen effizient
schützen. Das bedeutet zum Beispiel Einbauten von Belüftungsanlagen, Verkleinerung der
Gruppen oder Klassen und den Ausbau von sanitären Anlagen.
Damit wissenschaftliche Erkenntnisse gebündelt in politische Entscheidungen einfließen
können, fordern wir einen Bund-Länder-Gipfel, der sich mit dem Thema Bildung und Kita
befasst. Natürlich müssen die regionalen Bedingungen vor Ort immer dafür mit entscheidend
sein, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden. Aber ob bzw. unter welchen Bedingungen
z.B. Masken in Schulen oder gar im Unterricht Sinn machen, sollte einmal grundlegend geklärt
werden und dann müssen diese Grundlagenentscheidungen entsprechend der örtlichen
Gegebenheiten und des allgemeinen Infektionsgeschehens vor Ort angewendet werden. Genauso
könnte hier ein grundsätzliches Konzept erarbeitet werden, wie analoger und digitaler
Unterricht verknüpft werden kann und das beschreibt, unter welchen Umständen wie viel
Präsenzunterricht stattfinden kann. Dies wäre dann den Bedingungen vor Ort anzupassen. Es
kann nicht sein, dass Schulen und Lehrkräfte damit komplett allein gelassen werden.
Notbetreuungsanspruch für Alleinerziehende und Ausweitung der Kind-Krank-Tage
Die Notbetreuung von Kindern, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten, hat während
der ersten Coronawelle in Berlin in den meisten Einrichtungen gut funktioniert. Unser Dank
gilt insbesondere den Erzieher*innen, Lehrkräften und Sozialarbeiter*innen, die hier
weiterhin für die Kinder vor Ort waren und sie auch in dieser schwierigen Situation
unterstützt haben. Dennoch können wir Lehren für eine mögliche zweite Welle ziehen: Gerade
Alleinerziehende waren durch die strikten Kontaktbeschränkungen erneut vor besondere
Herausforderungen gestellt. Mit dem plötzlichen Wegfall außerhäuslicher Betreuungsangebote
wurde es für sie noch schwerer als sonst erwerbstätig zu sein. Bei einer möglichen zweiten
Welle müssen Alleinerziehende deshalb von Beginn an Anspruch auf Notbetreuung haben.
Es ist davon auszugehen, dass Kinder im bevorstehenden Herbst häufiger zu Hause bleiben
werden müssen, als normalerweise üblich. Weil Schulen und Kitas Kinder mit
Erkältungssymptomen nicht beschulen oder betreuen, müssen Eltern in die Lage versetzt
werden, sich um ihre Kinder zu kümmern. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung, dass
sie die so genannten Kind-Krank-Tage ausweitet. Derzeit haben Eltern pro Kind und Elternteil
einen Anspruch auf zehn Kind-Krank-Tage im Jahr, Alleinerziehende haben Anspruch auf 20
Tage. Dies wird in vielen Familien und gerade in solchen mit kleinen Kindern, die sehr
schnell eine Schniefnase oder einen leichten Husten haben, bei weitem nicht ausreichen.
Erwerbsarbeit aller Frauen mitdenken
Eine weitere Gruppe von Frauen, die insbesondere finanziell unter den Kontaktbeschränkungen
gelitten haben, waren Sexarbeiter*innen und Prostituierte. Es darf nicht sein, dass eine
ohnehin marginalisierte Gruppe hier überhaupt nicht mitgedacht wird. Gerade Frauen, die
keine große Lobby haben, müssen sich darauf verlassen können, dass die Politik sie nicht
vergisst. Für eine zweite Welle muss deshalb rechtzeitig sichergestellt werden, dass auch
für diese Berufsgruppe ein Zugang zu finanziellen Hilfen gewährleistet ist.
Über die Krise hinaus: Für die Hälfte der Macht braucht es strukturelle Veränderungen
Die Ursachen dafür, dass viele Frauen so stark unter der Coronakrise gelitten haben, liegen
tief in unserer gesellschaftlichen Struktur verankert. „Typisch weibliche“ Berufe wie zum
Beispiel Kranken- und Altenpflegerin, Verkäuferin oder Erzieherin sind immer noch schlechter
bezahlt als „typisch männliche“ Berufe. Dass ausgerechnet in diesen Berufsgruppen das
Risiko, an Covid-19 zu erkranken, höher ist, scheint wie eine Ironie des Schicksals. Darüber
hinaus fördert unser Steuersystem nach wie vor die Alleinverdienerehe, in der das zweite
Gehalt lediglich ein Zuverdienst ist. Aufgrund des besser bezahlten Jobs ist in den meisten
Familien der Mann Hauptverdiener, während die Frau Teilzeit arbeitet und den Großteil der
Carearbeit übernimmt.
Um hier strukturell anzusetzen, müssen wir die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen ebenso
fördern wie eine gleichmäßigere Verteilung von Carearbeit. Die systemrelevanten, meist von
Frauen ausgeübten Berufe, müssen endlich aufgewertet werden – und zwar vor allem finanziell.
Darüber hinaus brauchen wir ein echtes, konsequentes Entgeltgleichheitsgesetz, damit Frauen
nicht weniger verdienen als ihre Kollegen mit den gleichen Qualifikationen, Erfahrungen und
Aufgaben. Ebenso überfällig ist die Abschaffung des Ehegattensplittings zugunsten einer
Kindergrundsicherung. Nur so können wir den Gender Pay Gap verringern. Zudem muss die
steuerliche Schlechterstellung von Frauen bei Lohnersatzleistung ein Ende haben, indem diese
Leistungen grundsätzlich nach Steuerklasse IV berechnet werden.
Wir müssen beim Elterngeld und den Teilzeitregelungen nachsteuern. Denn leider wird
Carearbeit zwischen den Elternteilen oft nur dann gleichmäßiger aufgeteilt, wenn die
Familien dadurch keine finanziellen Verluste haben. Eine partnerschaftliche Aufteilung von
Carearbeit darf aber kein Luxus sein. Deshalb müssen wir gerade in Familien, die auf das
Einkommen des Mannes in voller Höhe angewiesen sind, höhere Elterngeldsätze prüfen. Auch
könnte Paaren, die sich die Elternzeit gleichmäßig aufteilen, ein höherer Elterngeldsatz
gezahlt werden. Über die erste Zeit mit kleinen Kindern hinaus muss es möglich sein, dass
Eltern paritätisch in Teilzeit arbeiten, ohne dadurch finanzielle Nachteile zu erfahren. Ein
Ausgleich für die Rentenkassen könnte hier helfen.
Und dann bleibt immer noch einiges zu tun. In Politik, Wissenschaft und Wirtschaft sind
Frauen nach wie vor zu wenig vertreten – und zu selten in vorderster Reihe. Deshalb brauchen
wir Parité-Gesetze und Frauenquoten in Führungspositionen. Gender Mainstreaming muss endlich
konsequent umgesetzt werden, Gender Budgeting in jedem Haushalt verankert sein. Wir brauchen
eine ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie in Bund und Ländern und nicht zuletzt ein
Bundesinstitut für Gleichstellung.
Viele dieser Forderungen können wir nicht allein in Berlin durchsetzen – unsere Grüne
Bundestagsfraktion fordert hier zurecht das Handeln der Bundesregierung ein. Doch Berlin ist
eins der progressivsten Bundesländer, deshalb braucht es auch unsere laute Stimme, um diese
Ziele auf Bundesebene durchzusetzen.
Die Zukunft ist weiblich
Die Coronakrise hat viele Probleme wie durch ein Brennglas sichtbar werden lassen. Vieles,
was vorher unter der Decke gebrodelt hat, ließ sich nun nicht mehr verstecken und spätestens
jetzt wissen wir, was wir schon lange geahnt hatten: Wirkliche Gleichberechtigung ist noch
lange nicht erreicht. Doch genau deshalb hat Corona auch den Widerstand der Frauen wachsen
lassen. Krankenpflegerinnen, Ärztinnen, Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen, Lehrerinnen und
Verkäuferinnen – genauso wie Mütter, die in allen möglichen Berufen arbeiten: Sie alle
wurden laut, haben auf ihre unterschiedlichen Lebensrealitäten aufmerksam gemacht und wollen
diese Ungerechtigkeit nicht länger auf sich sitzen lassen. Wir Bündnisgrüne stehen an ihrer
Seite und kämpfen für eine geschlechtergerechte Zukunft!
Änderungsanträge
- L-01-219 (Bahar Haghanipour (KV Berlin-Kreisfrei), Angenommen)
- L-01-219-2 (Bahar Haghanipour (KV Berlin-Kreisfrei), Angenommen)