Veranstaltung: | Landesdelegiertenkonferenz am 7. Dezember 2019 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 6 Weitere Anträge |
Antragsteller*in: | Taylan Kurt (KV Mitte) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 04.11.2019, 10:59 |
V-16: Hilfe statt Stigmatisierung: Überschuldete unterstützen, Schuldnerberatung stärken
Antragstext
Hilfe statt Stigmatisierung: Überschuldete unterstützen, Schuldnerberatung stärken
Unser Leben ist bestimmt von der Konsumgesellschaft. Wir befriedigen unsere Bedürfnisse über
den Konsum von Produkten und Erlebnissen, um teilzuhaben und Teil zu sein. Aber nicht alle
Berliner*innen haben hierfür die erforderlichen finanziellen Mittel. Weil sie arm sind und
nicht über das entsprechende Einkommen verfügen, aber dennoch teilhaben wollen und sich
dafür verschulden.
371.000 Berliner*innen sind überschuldet und können aus ihren laufenden Einkünften
Zahlungsverpflichtungen, selbst bei Einschränkung ihrer Lebenshaltung, nicht mehr
vollständig nachkommen. Sei es, weil sie ihren Job verloren haben, sich im Hartz IV Bezug
befinden, nur von einer kleinen Rente leben oder finanziellen Belastungen durch Trennung
bzw. Scheidung ausgesetzt sind. Es sind insbesondere armutsgefährdete Personengruppen, wie
Alleinerziehende, Alleinstehende und von Altersarmut Betroffene, die in Berlin besonders
häufig überschuldet sind. Sie sind hierdurch permanentem Stress ausgesetzt, leben in Angst
vor den Gläubigern, bedienen bestehende Schulden durch neue Schulden und öffnen ihre Briefe
nicht mehr.
Wer überschuldet ist, fühlt sich ausgeliefert und hilflos und wird hierdurch oftmals krank.
Auch schämen sich viele Betroffene durch die gesellschaftliche Stigmatisierung von
Überschuldung und Armut und suchen deshalb die Schuldnerberatungen in den Bezirken gar nicht
oder erst sehr spät auf. Statt Stigmatisierung brauchen Überschuldete jedoch passgenaue und
niedrig schwellige Unterstützung durch die Schuldnerberatungen, welche bei der Entwicklung
eines Entschuldungsplans an ihrer individuellen Lebenssituation ansetzen und sie bei der
Entschuldung unterstützen. Wir wollen hierzu die Schuldnerberatungen stärker mit den
Angeboten der Sozialberatung, Suchtberatung und der psychosozialen Beratung in den Bezirken
vernetzen, um Betroffene ganzheitlicher als bisher unterstützen zu können statt jeden
Hilfebedarf isoliert zu betrachten. Denn regelmäßig ist die Unterstützung bei der
Entschuldung Betroffener nicht sofort möglich, sondern erfordert zusätzliche Hilfen.
Derzeit werden nur knapp 1/3 aller überschuldeten Berliner*innen durch die
Schuldnerberatungen in den Bezirken erreicht. Unser Ziel ist es, möglichst viele
Überschuldete in den Bezirken bei der Entschuldung zu unterstützen. Bereits mit dem
laufenden Doppelhaushalt haben wir Grüne die finanziellen Mittel für den Ausbau der
Schuldnerberatungen in den Bezirken erhöht. Hierdurch konnte in den Schuldnerberatungen
zusätzliches Personal eingestellt werden. Dennoch sind die Schuldnerberatungen überlaufen
und es kommt weiterhin zu Wartezeiten für Überschuldete, ehe sie betreut werden. Wir wollen
daher die Schuldnerberatungen in ihrer Arbeit weiter unterstützen und auch ein proaktives
Zugehen der Schuldnerberatungen auf Überschuldete durch niedrig schwellige Angebote
ermöglichen. Denn viele Überschuldete haben zu wenig Kenntnis über die Existenz der
Schuldnerberatungen und geraten hierdurch in die Fänge zwielichtiger und kostenpflichtiger
Entschuldungsbüros. Auch muss gewährleistet werden, dass Wartezeiten bei den bezirklichen
Schuldnerberatungen reduziert und Wartelisten abgebaut werden. JedeR überschuldete
Berliner*in soll zeitnah einen Termin bei den Schuldnerberatungen erhalten und nicht mehr
wochenlang warten müssen. Deshalb wollen wir in jenen Bezirken, wie Mitte, Spandau, Marzahn-
Hellersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln, in denen die Überschuldung der
Bewohner*innen laut dem Berliner Verschuldungsatlas besonders ausgeprägt ist, die Angebote
der Schuldnerberatungen besonders ausbauen.
Die Stärkung der Schuldnerberatungen in den Bezirken erfordert neben dem Ausbau bestehender
Beratungsformen eine stärkere interkulturelle Öffnung der Einrichtungen im Hinblick auf ihre
Zielgruppen und neue Beratungsangebote. Ein Ausbau der Online-Beratung bietet das Potenzial,
durch ihre Niedrigschwelligkeit und Anonymität Überschuldete zu erreichen, welche bisher aus
Scham die Schuldnerberatungen nicht aufsuchen, jedoch Hilfe bei der Entschuldung in Anspruch
nehmen möchten.
Es ist insbesondere der Mietenwahnsinn, der viele Berliner*innen in die Schuldenfalle
treibt. 25% aller Personen, die die Schuldnerberatungen in den Bezirken im vergangenen Jahr
aufgesucht haben, hatten Miet- oder Energieschulden. Diese haben oftmals besonders
dramatische Folgen für die Betroffenen, da hier der Verlust der eigenen vier Wände und damit
einhergehend Wohnungslosigkeit droht. Betroffene mit Mietschulden suchen jedoch nicht immer
nach dem Besuch der Schuldnerberatungen auch die sozialen Wohnhilfen in den Bezirken auf. Um
Überschuldeten mit Miet- oder Energieschulden zu helfen und Zwangsräumungen abzuwenden, ist
in Fällen von Miet- und Energieschulden eine intensive Zusammenarbeit zwischen den
Sozialämtern und den Schuldnerberatungen notwendig, um mit den sozialen Wohnhilfen in den
Bezirken den Wohnraum der Überschuldeten durch die frühzeitige Zahlung der Mietschulden
erhalten zu können.
Besonders problematisch sind ebenso die von Gläubiger*innen beauftragten Inkasso-
Unternehmen, welche bereits überschuldete Berliner*innen durch horrende Zinsen und Gebühren
für Mahnschreiben, deren Höhe bis zu 21% über dem Streitwert liegen, noch weiter in die
Überschuldung treiben. Gleiches gilt für die zeitgleiche Beauftragung von Rechtsanwälten und
Inkasso-Unternehmen gegenüber Überschuldeten. Auch treten Inkasso-Unternehmen in ihren
Schreiben gegenüber überschuldeten Berliner*innen oftmals sehr aggressiv auf. Wir begrüßen
daher als ersten Schritt den vom Bundesjustizministerium vorgelegten Entwurf eines Gesetzes
zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht, welcher eine zeitgleiche
Beauftragung von Inkasso-Unternehmen und Rechtsanwälten durch Gläubiger*innen zukünftig
verbieten und ebenso die durch Inkasso-Unternehmen festzusetzenden Gebührenhöhen stärker
reglementieren wird. Es braucht jedoch auch ein Verbot aggressiver Schreiben und Drohungen
der Inkasso-Unternehmen gegenüber Überschuldeten. Denn Einschüchterungen dürfen sich nicht
lohnen.
In einer auf Konsum ausgerichteten Welt muss der bewusste Umgang mit Geld frühzeitig
vermittelt werden, um die Berliner*innen für die Ursachen und Folgen von Überschuldungen zu
sensibilisieren. Da Jugendliche aus finanziell privilegierten Elternhäusern nachweislich
über eine höhere Finanzkompetenz verfügen als finanziell nicht privilegierte Jugendliche,
wollen wir die finanzielle Bildung Letzterer durch Angebote in Schulen und
Jugendfreizeiteinrichtungen im Sinne einer „präventiven Schuldnerberatung“ unterstützen.
Auch die von Überschuldung am stärksten betroffenen Personengruppen, wie Alleinerziehende
und die steigende Anzahl überschuldeter Senior*innen, benötigen zielgruppenspezifische
Präventionsangebote in Nachbarschaftseinrichtungen in ihren Kiezen.
Begründung
Unterstützer*innen:Silke Gebel (KV Mitte), Nina Freund (KV Tempelhof-Schöneberg), Fatos Topac (LAG Gesundheit und Soziales), Selma Tabak Balks (KV Mitte), Mona Hille (KV Mitte), Anja Kofbinger (KV Neukölln)
Änderungsanträge
- V-16-004 (Stefan Ziller (KV Berlin-Marzahn/Hellersdorf), Eingereicht)